In meiner Familie habe ich immer meinen Vater als den klügsten Kopf von allen angesehen. In gewisser Weise war er ein Intellektueller, denn er war betont verstandesmäßig, hielt von Emotionen eher wenig und versuchte jedes Problem zunächst rational zu lösen. Noch heute bleibt mir allerdings seine strikte Ablehnung der Geschichte als historische Erklärung für Phänomene der Gegenwart weitgehend unverständlich. Wenn man ihn nach den Gründen für seine negative Sichtweise auf die Fakten der Vergangenheit fragte, zitierte er immer Mahatma Gandhi (1869 –1948) „Die Geschichte lehrt uns, dass die Geschichte uns nichts lehrt“. Mit einem süffisanten Lächeln beendete er damit jede weitere Diskussion zum Thema. Wie immer, pflichtete meine Mutter ihrem Ehemann bei und so blieb mein historisches Interesse während meiner gesamten Jugend und Adoleszenz auf allerniedrigstem Niveau, denn es wurde im häuslichen Umfeld in keiner Weise gefördert. In der Schule wurde das Interesse an Geschichte ebenso wenig geweckt, die Kenntnis der Jahreszahl drei-drei-drei, bei der es angeblich eine Keilerei gab, wurde uns beziehungslos eingehämmert und stand symbolhaft für die Inhalte des Faches Geschichte. Erst die Vorlesungen zur Geschichte der Medizin, während meines Studiums, begannen mich neugierig auf historisches Wissen als Erklärung für die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gegenwart zu machen. Ich verstand recht bald, dass die Geschichte irgendwie das Bewusstsein für vergangene Gesellschaften deutlicher macht und damit auch den schnellen Wandel des Wissenszustandes meiner eigenen Epoche aufzeigte. Das Argument meines Vaters wurde in meinen Augen alleine durch die Epoche der Renaissance widerlegt, denn die Wiedergeburt der antiken Kultur zu neuem Leben, eben die (franz.) „Renaissance“, hat, basierend auf dem vergangenen Leben der Antike, zu einer unbeschreiblichen kulturellen Blüte geführt, sodass manche Historiker gar von einer Kulturrevolution sprechen. Zwar kann man aus dieser Erkenntnis keinen direkten Nutzen für die Gegenwart ziehen, aber sie ist ihrerseits trotzdem für das Verstehen der eigenen Lebens- und Zeitumstände wichtig: auch unser eigener geistiger Horizont unterliegt einem ständigen Wandel, der in einer Vergrößerung oder auch einer Einschränkung unseres jeweiligen sozialen und kulturellen Gesichtswinkels münden kann. Geschichte ist niemals statisch, im Gegenteil, sie ist ein fortschreitender Prozess, an dem die heutigen Generationen an vorderster Front teilnehmen.
Durch mein immer intensiver werdendes Interesse an der Geschichte habe ich gelernt, dass meine Lebenswelt nur eine von sehr vielen anderen möglichen ist. Ich muss nur meine Perspektiven etwas verändern und dann kann ich die Alternativen entdecken und versuchen sie zu verstehen. Dies mündet zwangsläufig in der berühmten Metaphorik vom Tellerrand, über den ich langsam lerne hinwegzuschauen. Eine Tatsache beschäftigte mich von Anfang an, nämlich, dass Geschichte ohne das Vergessen überhaupt nicht denkbar ist. Mit großer Sicherheit ist das Vergessen ein zeitabhängiger Mechanismus, der verhindert, dass die Gedächtniskapazität des Gehirns in Laufe des Lebens überfrachtet wird. Ohne das Vergessen gäbe es keine Wiederentdeckung vergangener politischer und kultureller Zusammenhänge, also keine Geschichte! Vergangenheit könnte sich tatsächlich nur an einer Jahreszahl festmachen lassen, ansonsten wäre sie auch in der Gegenwart noch voll präsent. Obwohl uns die Gedächtnisforscher bislang nur Definitionen geliefert haben, wird heftig über Einflüsse und Kräfte spekuliert, die das Gedächtnis, bestehend aus Erinnern und Vergessen regeln. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass Erinnern und Vergessen zusammengehören. Wenn wir uns an ein unwiederbringliches Ereignis erinnern wollen, müssen wir auch vergessen, denn man kann (und will) nicht alle Details im Zusammenhang mit dem Ereignis abspeichern; manche Einzelheit ist wichtig, während andere dies deutlich weniger sind. Wir steuern also unsere Gedächtnisleistung und ökonomisieren sie. Würden wir alle Einzelheiten als gleich wichtig und bedeutungsvoll ansehen und sie erinnern wollen, wären wir vermutlich unfähig, Konsequenzen für unseren Umgang mit einem unvorhergesehenen Ereignis zu ziehen.
Im Gegensatz zu der Meinung meines längst verstorbenen Vaters glaube ich, dass der Nutzen einer Beschäftigung mit Geschichte ungeheuer groß sein kann. Die Fähigkeit vergangene Prozesse und Ereignisse zu verstehen und sie in einen Kontext einzuordnen, ist Teil der viel beschworenen Allgemeinbildung und kann nicht durch Nachschlagen in Lexika oder im Internet ersetzt werden, weil man dadurch die Gesamtzusammenhänge und ihren Bezug zur Gegenwart nicht verstehen würde. Ich glaube, dass nur ein eigenes Geschichtsbewusstsein uns zu selbstständigem Denken und Handeln anregen kann. Ebenso ermöglicht uns die Kenntnis der Leistungen von gelebt habenden Menschen unsere eigenen geistigen, kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritte richtig einzuschätzen und weiterzuentwickeln. Schließlich lehrt uns die Geschichte, dass wir nur ein kleines Glied in einer unendlich langen Kette von Generationen sind, die eine historische Verantwortung für die Pflege und Erhaltung unserer Lebensbedingungen, sprich unserer Umwelt, trägt. Wir haben die Verpflichtung, den nachfolgenden Generationen unsere Welt wenigstens in dem Zustand zu übergeben, in dem wir sie selbst einst vorgefunden haben.
Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!