Der Frankenkönig Lothar der Erste soll im 9. Jahrhundert die alte Weisheit, dass sich die Zeiten ändern und wir uns in ihnen, im lateinischen Spruch „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“ für alle Zeiten festgehalten haben. Heute würden wir es durch „sich dem Zeitgeist anpassen“ definieren. Genau das tun gerade auch die Winzer in Jerez de la Frontera und ihr Kontrollorgan der sog. Consejo Regulador de la Denominación de Origen. Man hat den erheblichen und sehr schmerzhaften Rückgang des Sherry-Konsums im vergangenen Jahrzehnt mit dem üblicherweise hohen Alkoholgehalt des Getränks in Verbindung gebracht. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis war die Etablierung einer Arbeitsgruppe, die evaluieren sollte, wie man den Alkoholgehalt von biologisch gereiften Weinen, zunächst einmal nur von den unter einer flor Schicht ausgebauten Manzanillas und Finos, senken könnte. Vor Kurzem wurde die erfreuliche Mitteilung in Jerez lanciert, dass es tatsächlich gelang Weine aus der klassischen Palomino fino-Traube ohne Zugabe von Alkohol herzustellen, die die sensorischen Eigenschaften eines Sherry hatten aber nur eine Alkoholstärke von 11 – 12 Vol.-%, statt der üblichen 14,5 – 16 Vol.-%, aufwiesen. Die andalusische Regionalregierung hat wohl bereits signalisiert, dass man diese Weine auch unter der garantieren Herkunftsbezeichnung „D.O. Jerez-Xérès-Sherry“ vertreiben könne. Die breite Akzeptanzprüfung durch potentielle Konsumenten, die dem Sherry zugetan sind, steht allerdings noch aus.
Parallel zu der Entwicklung alkoholarmer Sherries hat man einen uralten Weintyp dieser Region wieder ausgegraben: den Vino de Pasto. Pasto bedeutet zu Deutsch die Weide, das Gras und im Spanischen auch gerne das Unkraut. „Vinos de Pasto“ waren in Andalusien schon immer einfache Alltagsweine, im Gegensatz zu den „Vinos Generosos“, den edlen Weinen, zu denen der Sherry gehört. Dementsprechend werden diese Weine regulatorisch als „Vinos der Mesa“ oder „Vinos de la Tierra“ (Tafel- oder Landweine) eingestuft und angeboten. Diese andalusischen Landweine werden heute im Großraum um das Sherryland und um die Städte Montilla, Moriles und Cordoba produziert. Entsprechend werden sie aus Palomino fino- oder Pedro Ximenez-Trauben vinifiziert. Ihr Alkoholgehalt entspricht dem der Grundweine, sie werden nicht aufgespritet. Anders als der Sherry und sein Pendant aus Montilla-Moriles ist der Kontakt mit den auf der Oberfläche des Weines wachsenden Florhefen deutlich kürzer und findet manchmal so gut wie garnicht statt. Was bei den Klassikern Fino und Manzanilla u.U. Jahre in 500 l-botas (Fässern) sein können sind bei den Vinos de Pasto Wochen bis ein paar Monate. Diese schonende Behandlung in der Kellerei bringt bei manchen dieser Weine eine Eigenschaft zur sensorischen Kenntnis, die bei den klassischen Sherries völlig fehlt: das Terroir der Rebgärten. Entsprechend suchen die Winzer jetzt die besten Lagen in den Provinzen Cádiz und Cordoba, wobei die kalkhaltigen Albariza-Böden im Sherry-Land einen besonderes Kick darstellen. Wie ich mich selbst überzeugen konnte können dabei wunderbar nach Frühlingsblüten duftende Kreszenzen mit feinen, salzigen Gewürznoten am Gaumen und einer großartigen Säurestruktur herauskommen. Von vielen, prominenten Weinkritikern haben sie bereits beste Noten erhalten. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Weine hervorragend mit Meeresfrüchten und kräftigen Fischgerichten harmonieren werden.
Eingefleischte Weinfreunde der beschriebenen andalusischen Spezialitäten werden natürlich sofort an eine sehr ähnliche, und ganz großartige Weinkultur im französischen Jura erinnert: die sog. Vins Jeaunes (Gelbweine). Diese, vielleicht aus der Zeit gefallene Spezialität ist vermutlich nur für Fortgeschrittene ein wirkliches Vergnügen. Während seiner oxydativen Reifezeit von sieben Jahren in gebrauchten 225 l-barriques unter Florhefen, wird er vom Weinmacher völlig in Ruhe gelassen und weder geschwefelt noch der Schwund nachgefüllt. Ein Teil des Weines verdunstet und schließlich bleiben von einem Liter Wein nur noch 0,62 Liter übrig, die auf bauchige Flaschen von genau diesem Volumen Inhalt abgefüllt werden. Vom Geruch erinnert der Gelbwein dann an einen lange gereiften Amontillado-Sherry, allerdings nur mit einem Alkoholgehalt von um die 14 Vol.-%. Man spürt am Gaumen Noten von frisch gebackenem Brot, Walnüssen und getrockneten Früchten und Käutern. Das Geschmackserlebnis ist in seiner Kompexität durchaus vergleichbar mit dem der großen Amontillados oder Palo Cortados.
Die duft- und gaumenschmeichelnden Eigenschaften der Klassiker aus Andalusien oder aus dem französischen Jura sind heute leider kaum mehr gefragt und so ist es umso erfreulicher, dass mit den Vinos de Pasto eine Erinnerung an diese Größen der europäischen Weinkultur erhalten bleibt. Es erscheint mir wie eine Ironie der Geschichte, dass ein alter Weinstil, der Vino de Pasto, sich zum zeitgeistkonformen Retter und Bewahrer einer mindestens so alten Weinkultur in Form des Sherry oder der Vins Jaunes aufschwingt. Außerdem sind viele Weinfreunde des sog. neuen Weißweinstils mit seiner häufig überbordenden Frucht und dem „easy-drinking“-Attribut überdrüssig gewordenn und da kommen die Vinos de Pasto gerade recht, denn sie sind tatsächlich mehr Wein als Fruchtbomben.
Bleiben Sie stets neugierig und… genußvoll durstig!