Mit dem 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich rückt auch ein anderer Künstler, der ihm in seiner Bedeutung für die Landschaftsmalerei ebenbürtig ist, in den Brennpunkt: Joseph Mallord William Turner (1775–1851). Es scheint nur konsequent, dass das Münchner Lenbachhaus gerade jetzt unter dem Titel „Turner. Three Horizons“ eine Ausstellung aller Schaffensphasen des britischen Malers organisiert hat. Ins Detail gehende Texte erläutern die Exponate, die zu einem wesentlichen Teil aus der Londoner Tate Gallery, die Turners Nachlass hütet, stammten. Mit seiner rigorosen Konzentration auf die Farben, das Licht und die Landschaft, bzw. das jeweilige Thema rüttelte Turner die Betrachter seiner Bilder damals wie heute auf. In seinen frühen, noch sehr exakt gemalten Bildern identifizieren wir ihn als Romantiker par excellence. Seine Malweise wird aber immer flüchtiger, unschärfer und unbestimmter. Es sind diese Bilder, die wie eine Vorwegnahme der Moderne anmuten. Turner ist ein Impressionist, der in seinem Spätwerk schließlich zur abstrakten Malerei fand. Das waren atemberaubende künstlerische Schritte, die da jetzt an den Wänden des Lenbachhauses hängen!
Es ist gut vorstellbar wie die Zeitgenossen auf die Bilder Turners reagiert haben. Nur sehr wenige erkannten das gewaltige Potential seiner Kunst. Selbst tonangebende Künstler und Kritiker ihrer Zeit äußerten sich fast durchweg negativ über Turner. Carl Gustav Carus, Dresdner Naturwissenschaftler und ebenfalls romantischer Maler, nannte das Werk Turners eine „Verrücktheit“. Der Münchner Kunstkritiker Ernst Förster sah in Turners Malerei lediglich „Klexe“. Man könnte die Reihe derartiger Fehlinterpretationen beliebig fortsetzen. Erst die Impressionisten haben Turner entdeckt. Claude Monet hat in London Turners Bilder intensiv studiert, analysiert und bewundert. Schließlich hat der flämische Dichter Sam Smiles Turner erstmals als Proto-Impressionisten beschrieben. Ungeachtet seiner großen und wie es scheint, fast zeitlosen, Wirkung auf die Malerei Europas wird er immer noch als der Hauptvertreter der der romantischen Malerei in Großbritannien gesehen. Turner konnte große Gefühle visualisieren und war sehr am modernen Leben interessiert wie es sich z.B. in der Entwicklung der schnellen Eisenbahn widerspiegelte.
Eines der vielen mitreißenden Bilder in der Münchner Ausstellung war „Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway“. Es zeigt konkret eigentlich nur die Front einer Lokomotive mit den angedeuteten Wagons im Gefolge, den ungeheuren rußigen Rauch, den sie durch ihren hohen Schonstein in die graue englische Regenlandschaft bläst und das schnurgerade Gleisbett, auf dem, suggeriert durch die Unschärfe des gesamten Umfeldes, der Zug entlang rast. Noch nie habe ich die Geschwindigkeit so deutlich mit malerischen Mittel dargestellt gesehen! Ein anderes Gemälde von enormer, visueller Kraft war „Venice with the Salute“, gemeint ist die Kirche Maria della Salute. Ich bin vom Nachbarbild kommend relativ nahe an der Wand entlanggegangen und stand plötzlich vor einer weißlich-grauen mit Purpurtönen durchsetzten Leinwand, in der grünlich schimmernde gold-gelbe Nuancen den Eindruck mitprägten. Dies schien tatsächlich ein abstraktes Bild zu sein. Um mir einen Überblick über die Szene machen zu können trat ich zwei Schritte zurück und völlig überraschend erkannte ich im Dunst Häuser und die Umrisse der Kirche. Ich war begeistert und bin in der restlichen Zeit immer wieder zu diesem Bild zurückgekommen, obwohl es noch einige Landschaftsdarstellungen im gleichen oder ähnlichen Stil gab. Wie sein deutscher Zeitgenosse Caspar David Friedlich war Turner auch in die Dynamik des Meeres und der Schiffe darauf vernarrt. In vielen Bildern hat er diese Thematik aufgegriffen.
Turner ist im Wesentlichen ein Landschaftsmaler im weitesten Sinne, der in seinen Werken Naturereignisse darstellt, teilweise beschaulich und teilweise dramatisch, je nachdem wie die Natur auf ihn wirkt. Sein darstellerischer Fokus liegt in der Vermittlung von Stimmungen in seinen Bildern. Eine genaue Nachahmung der „Realität“, ist überhaupt nicht sein Ziel. Seine Maltechnik war ausgesprochen unkonventionell und löste bei den akademischen Malern jener Zeit Spott und Häme aus. Für Turner war technische Perfektion eher unwichtig. Seine Priorität lag wohl in der Vermittlung von Sinnlichkeit durch Licht und Farbe. Manche Menschen haben die Gabe des „Coloured Hearing“ was bedeutet, dass sie alles mit Klang über Farben bzw. umgekehrt Farben über Klänge assoziieren. Selbst wenn man nicht solch ein „Synästhetiker“ ist, kann man die Bilder Turners vor dem geistigen Auge leicht mit Musik in Verbindung bringen.
Beim Betrachten von Turners Lebenslauf fällt mir auf, dass zwei immer wiederkehrende Ereignisse seinen künstlerischen Werdegang dominieren: einerseits seine Beziehung zur Kunstschule der Londoner Royal Academy von der er mit 27 Jahren, als festangestelltes Mitglied aufgenommen wird, und andererseits seine vielen Reisen durch Europa, die ihm die Inspiration, die sich in seinen Bildern niederschlug, brachten. Man mag es kaum glauben, auch die konservative, akademische Sichtweise der Royal Academy auf die Kunst fordert seine Inspiration heraus, indem er dagegen zu rebellieren beginnt. Trotzdem bleibt er der Academy treu und stellt bis zu seinem Lebensende seine Werke regelmäßig dort aus. Etwa zwei Jahrhunderte später ist es dem Münchner Lenbachhaus gelungen Turner wieder quicklebendig werden zu lassen.
Bleiben Sie stets neugierig …und genußorientiert durstig!