Betrachtungen zum Thema „Musik, Stille und Todesweh“

Wiesenblumen im Sommerwind

Wie sein baltischer Komponistenkollege Arvo Pärt (geb. 1935) aus Estland ist der lettische Komponist Pēteris Vasks (geb. 1946) ein großer Verehrer langsamer Tempi. In „ZEIT-online“ vom 28.04.2009 wird er mit folgenden Sätzen zitiert: „In meinen Werken stehen die schnellen Sätze immer für das Aggressive, Brutale, für die dunkle Seite der Menschheit. Das Ideale kommt langsam, piano, als Gesang. Ganz wenige meiner Werke enden im Fortissimo. Meine Musik ist der Choral. Ich komponiere am liebsten stille Musik.“ Stille Musik ist auf den ersten Blick natürlich ein Wiederspruch in sich, ganz ähnlich dem Begriff „tönende Stille“. Entgegen aller Vernunft gibt es ihn aber. Die Dynamik, d.h. die Stärke eines Tons vom „piano“ zum „forte, bzw. in der Steigerung vom „pianissimo“ zum „fortissimo“, ist eine der intensivsten Möglichkeiten zur Gestaltung eines Musikstückes durch den Solisten und/oder Dirigenten. Ein wunderbares Beispiel dafür und für die musikalische Darstellung der Stille findet sich gleich zu Beginn von Anton Weberns (1883 – 1945) farbenfrohem, symphonischen Gedicht „Im Sommerwind“: die Musik steigt pianissimo aus dem stillen Nichts, wie die Morgensonne aus der Dämmerung.

Weißt du, sinnende Seele,
Was selig macht?
Unendliche Ruhe!

So heißt es in dem Poem von Bruno Wille (1860 – 1928) „Im Sommerwinde“, welches die Vorlage für Weberns Musik war. Mir gefällt an diesen Zeilen besonders der Begriff der „sinnenden Seele“ als Synthese von Geist und Emotion. Wenn ich für „sinnen“ die Worte „denken“ oder „reflektieren“ einsetze, komme ich meiner alten Vorstellung von den abstrakten Inhalten der Musik recht nahe. Weberns Stück ist voll von visuellen und akustischen Eindrücken, die das zugrunde liegende Gedicht ergänzen bzw. interpretieren. Der von der unendlichen Ruhe sprechende Abschluss der Töne verschwindet wieder im Nebel des pianissimo bis zur endgültigen Stille. Webern hat über die Noten geschrieben „bis zu gänzlicher Unhörbarkeit“. In der gesamten Komposition wechseln sich Musik und Stille ab  –  eben wie an einem Sommertag in der vom unsichtbaren Wind durchwehten Natur. Trotz aller kompositorischen Unzulänglichkeiten und gelegentlichen Banalitäten ist Weberns „Im Sommerwind“ ein bezauberndes Werk mit dem großen Charme jugendlicher Frische und Unbekümmertheit.

Das Göttliche in der Musik offenbart sich nicht selten in den stillen Momenten. Wenn ich vom „Göttlichen“ rede so meine ich keinen konkreten Gott irgendeiner Religion. In diesem Fall ist Gott ein abstrakter Begriff und vielleicht mit dem Wort „Schöpfung“ am besten beschrieben. Müsste ich meine Gottesvorstellung als Symbol darstellen, könnte es der „Pantocrator“ (Weltbeherrscher) sein, wie er sich häufig als Mosaik in byzantinischen Kirchenkuppeln oder Apsiden findet. Was immer für einen Weg zur Erkenntnis des Göttlichen wir beschreiten, ohne Stille geht es nicht. Stille und Schweigen sind Teil der Liturgie fast aller Konfessionen dieser Welt und der Vorhof zum Verständnis des Göttlichen. Wie es der große spanische Mystiker Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) einmal ausdrückte: „im Schweigen muss das Wort von der Seele gehört werden“. An dieser Stelle sind wir wieder ganz nahe beim Hören, sprich: bei der Musik. Das Attribut „göttlich“ passt bekanntlich auf sehr viele Musikstücke  und wird in der Beschreibung von Musik entsprechend häufig verwandt (insbesondere der von W. A. Mozart!) . Im Übrigen muss auch diese im Schweigen von der Seele gehört werden! Das ist beileibe keine Mystik, sondern die ständige Erfahrung eines Konzertgängers.

Wenn ich die Sehnsucht nach Stille genauer betrachte, beginne ich zu ahnen, dass es letztendlich die absolute Stille ist, die im Zentrum des Verlangens vieler Menschen steht. Todesstille, Grabesstille. Ist das vielleicht eine latente Ausdrucksform der Todessehnsucht?  Natürlich hat dies nichts mit dem gleichen Begriff zu tun, den Psychologen benutzen um eine Suizidgefährdung zu beschreiben. Was ich hier meine, hat einen Inhalt etwa wie das zeitlich begrenzte „Fernweh“ und könnte deshalb auch gut „Todesweh“ genannt werden. Es ist, vermute ich, ein Leeregefühl und der unbewusste Wunsch zu neuen Ufern aufbrechen zu wollen um eine unbestimmte, noch undefinierte, Neugier zu befriedigen bzw. ein bestehendes Wissensvakuum aufzufüllen. Der Tod als Ende und Neubeginn einer Zeit? Vielleicht kann es aus philosophischer Sicht einfach die Suche nach Erkenntnis genannt werden. Die allerletzte Erkenntnis des Lebens ist die des Wesens des Todes (immer wenn man über den Tod schreibt, enden naturgemäß viele Sätze mit einem Fragezeichen)? Der Wunsch zu erkennen und zu verstehen hört nie auf, auch im Alter nicht, kann aber von Religionen, Weltanschauungen und Konventionen beeinflusst bzw. sogar unterdrückt werden. Deshalb ist die Stille, und sei es „nur“ die tönende Stille der Natur oder die „Unhörbarkeit“ im Sinne Weberns, so immens wichtig, denn sie ist der fruchtbare Boden in dem die Saat der Erkenntnis aufgeht!

Bleiben Sie stets neugierig …und genussvoll durstig!

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