Ich weiß nicht wie es Ihnen in diesen Tagen der unfreiwilligen Reisebeschränkungen geht: lesen Sie Reiseberichte, weil sie schöne Erinnerungen an die Tage der Freiheit und Unbeschwertheit wachrufen? Oder vermeiden Sie deren Lektüre weil sie Ihnen den Verlust ihrer Mobilität schmerzhaft vor Augen führen? Ich tendiere eher zur ersten Auffassung und hoffe, dass es anderen auch so geht, deshalb berichte ich hier von einer Reise, die ich noch kurz vor dem „shut-down“ unternommen habe.
Seit mehr als drei Jahrzehnten verbringe Jahr für Jahr Zeit damit die Geographie und Kultur Spaniens zu entdecken. Nach Abschluss jeder dieser Reisen sage ich mir selbstzufrieden „jetzt hast Du ganz Spanien gesehen“ und in Zukunft würde es ausreichen sich an irgendeiner Küste Iberiens den Sonnenuntergang anzusehen, gut zu essen und dazu weiter auf Entdeckungsreise durch die schier unendlich große, spanische Weinwelt zu gehen. Meist dauert es nicht lange bis ich unerwartet von irgendeiner Region oder Gegend gehört oder gelesen habe, die mir vielleicht doch noch nicht bekannt ist und in die ich gerne reisen möchte. „Las Bárdenas Reales“ war so ein Ziel, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Die „Bárdenas“ sind eine Wüste im Norden des Landes, an den Ausläufern der Pyrenäen in der autonomen Region Navarra.
Eine Wüste? Bei diesem Wort denke ich spontan an Sand soweit das Auge reicht und die darin hinterlassenen Spuren von durchgezogenen Kamelen. Nichts dergleichen findet sich hier. Trotzdem ist die Landschaft faszinierend: bizarre Felsformationen aus Kalk und Lehm, wie spitze Schneidezähne in
die Luft ragende Berge und schroffe Schluchten, die sich in den Boden gefressen haben. Das recht überschaubare Areal der Bardenas von 415 Km² ist ein geschützter Naturpark, der im Jahre 2000 von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärt wurde. Der Name „Bardenas“ soll übrigens aus dem Baskischen kommen: Abar-dena, bedeutet so viel wie Reisig oder trockene Äste, was auf das regenarme Klima hindeutet. Ausgangspunkt für einen Besuch der skurrilen Halbwüste ist die Ortschaft Arguëdas. Von dort erreicht man nach 7 Kilometern das Besucherzentrum, wo man sich über alle Einzelheiten der bevorstehenden Naturszenerie informieren kann.
Selbstverständlich hat auch die gelegentlich mystisch-unwirklich erscheinende Landschaft der „Bardenas“ ihre Legenden. Eine der lebendigsten davon ist die Geschichte des Sanchicorrota, der mit bürgerlichem Namen Sancho Rota hieß. Er lebte im 16. Jahrhundert und war ein „bandolero“. Diese Straßenräuber und Wegelagerer waren in jenen Zeiten vorwiegend in Andalusien tätig, aber Sanchicorrota blieb in seiner nördlichen Heimat treu und brachte es zum „Rey de las Bárdenas“. Sein Vorbild war, wie das aller bandoleros, der unsterbliche Held Robin Hood, der ein Jahrhundert vorher sein Unwesen im Sherwood Forest im fernen England trieb. Sanchicorrota beraubte die Reichen und beschenkte die Armen mit seinem Diebesgut. Schließlich wurde er gefasst, dem Galgen entzog er sich durch Selbstmord. Sein Leichnam wurde trotzdem in Tudela zur Abschreckung auf der Straße an einen Galgen geknüpft.
Die Kleinstadt Tudela ist gleichsam das südwestliche Vorzimmer der Bardenas Reales. Mit weniger als 40.000 Einwohnern ist sie dennoch die zweitgrößte Stadt Navarras. Sie war eine maurische Gründung aus dem Jahre 802 und in ihrer Hochzeit lebten die drei Religionen angehörenden Bewohner friedlich miteinander. Am Beginn des 12. Jahrhunderts startete von hier aus der erste jüdische „Weltreisende“ namens Benjamin von Tudela. Über den Anlass seiner Reise wurde viel gerätselt, heute glauben manche Historiker, dass er die Lebensverhältnisse der Juden in anderen Ländern auskundschaften wollte, da er ahnte, dass die spanische Krone bald eine antijüdische Politik verfolgen würde und die Sepharden (spanische Juden) gezwungen würden das Land zu verlassen. Diese Zukunftsvision wurde ja leider ein paar hundert Jahre später tatsächlich grausame Realität!
Das außerordentlich fruchtbare Schwemmland des Ebro-Flusses rings um Tudela ist ein hervorragender Boden für die Pflanzung verschiedenster Gemüsearten. Die lokalen Spezialitäten Tudelas sind der weiße und grüne Spargel (espárrago), der im Mai und Juni genussreich ist, die rote Paprika (pimiento rojo) und Artischocken (alcachofa). Eine gastronomische Besonderheit der ganzen Ebro-Region (Aragón, Navarra, La Rioja) ist der Gemüseeintopf, die Menestra. Ihre Zubereitungsart bewegt sich, je nach Küchenchef, zwischen ganz einfach bis sehr komplex, dank der Frische der aromatischen Gemüse schmeckt sie aber eigentlich immer sehr gut.
Einen Höhepunkt des Genusses von lokalem Gemüse erfuhr ich in Tudela im Restaurant „Trentaitrés“ auf der Calle Pablo Sarasate, 7. Alleine die Lektüre der Vorspeisen auf der Speisekarte regte die gastrosophische Phantasie an. Da las ich von Gerichten wie „Artischocken-Böden mit Gänsestopfleber“, „Steinpilze mit Garneelen, gegart bei niederen Temperaturen“, „Blattstiele von Mangold gefüllt mit Iberico-Schinken und Sauce hollandaise“, „Prinzesskartoffeln mit knusprigem Borretsch und Quinoa… u. s w.“. Ich habe mir als Hauptspeise die „Pochas de Tudela, espinaca y bacalao ajoarriero“ ausgesucht; ein Gericht von jungen weißen Bohnen aus Tudela, Spinat und Stockfisch mit Knoblauch. In dieser Speise war die Seele spanischen Essens auf das Geschmack- und Liebevollste eingefangen und der begleitende Weißwein „Garnacha Blanca 2015“ von Santa Cruz de Artazu aus der Region war das sensorische Tüpfelchen auf dem „i“. Wer sich postpandemisch auf die Reise nach Navarra begibt, dem kann ich nur empfehlen einen Besuch der Bárdenas Reales im „33“ in Tudela ausklingen zu lassen!
Bleiben Sie stets neugierig… und durstig!