Ein längst tot geglaubtes Gespenst regt sich wieder

Nationalistischer Geist soll da bleiben wo heute auch die Hexen sind: in der Versenkung! (Bild: Pixabay)

Kürzlich las ich das Buch „Europa gegen die Juden 1880 – 1945“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 2017) des bekannten Historikers und Journalisten Götz Aly. Er beleuchtet darin das Schicksal der Juden im modernen Europa. Ihr Leben war bekanntlich ein fester Bestandteil der sehr komplexen, neueren europäischen Geschichte. Als allseits ungeliebte Minderheit, mussten sie sich nach dem Ersten Weltkrieg in fast allen Ländern als Opfer des vom amerikanischen Präsidenten Wilson propagierten „Selbstbestimmungsrechtes“ alter und neu entstandener oder wiedererstarkter Nationalitäten sehen. In vielen Ländern wurden die Juden zu Fremden deklariert und entsprechend behandelt. Zwar reden wir heute nicht mehr unbedingt vom Selbstbestimmungsrecht eines Volkes, aber wir reden wieder viel von Nationalismus und der angeblichen Größe und Überlegenheit einer ethnisch homogenen Bevölkerung. Wie einst in der Vergangenheit werden Feindbilder erneut aufgebaut: in den Migranten und Flüchtlingen, die in angeblich unglaublichen Ausmaßen aus dem Nahen und Fernen Osten sowie aus Afrika nach Europa kommen, werden die ungeliebten „Ausländer“ gesehen, die man vor der Türe stehen lassen möchte. Dass sich hinter den Opfern dieses unfeundlichen und gelegentlich bis zur offenen Aggressionen gesteigerten Verhaltens menschliche Schicksale und humanitäre Notstände verbergen können, ist kein Geheimnis sondern für jeden von uns erkennbar, denn wir lesen es beinahe täglich in der Presse oder sehen es im Fernsehen.

Auch die weltweite „Corona-Krise“ hat wieder die hässliche Fratze des Nationalismus gezeigt: die Chinesen, und mit ihnen so gut wie alle Asiaten, werden als Urheber des viralen Übels beschimpft und tragen damit einen Teil der Schuld für die damit in Zusammenhang stehenden Unanehmlichkeiten des internationalen Spießertums. Die Bösewichter sind offenbar immer nur diejenigen jenseits der eigenen Grenzen, also die Ausländer, und gegen sie muss man sich abschotten. So geschieht es im Augenblick: Europa hat den Rückwärtsgang eingelegt und in den kilometerlangen Schlangen an den Grenzstationen verfaulen, wegen der zeitaufwendigen Kontrollen, die Lebensmittel in den Transportlastern. Einreisestopp in die Europäische Union und gleichzeitig zusätzliche Verkehrsbeschränkungen an den Binnengrenzen: kann man sich etwas Unlogischeres und Absurderes vorstellen? Das völlig unreflektierte „America First“ des Politabenteurers Donald Trump ist zum Vorbild für Politiker mit ähnlich beschränkter Welticht geworden. Diese sind die aktuellen Wegbereiter für den allseits aufkeimenden Nationalismus.

Der spanische Konflikt um die Unabhängigkeit Kataloniens, der englische Isolationismus mit dem  „Brexit“, der politische Rechtsruck in Italien, Ungarn und Polen, das Wiedererstarken nationalsozialistischen Gedankengutes in Deutschland und der erwähnte Amerikanismus jenseits des Atlantik sind Entwicklungen, die Angst machen, weil sie zu viele Ähnlichkeiten mit fatalen Ereignissen unserer eigenen Geschichte zeigen. Dazu kommt jetzt noch die Corona-Pandemie mit ihren Schuldzuweisungen! Da die braven Bürger in den betroffenen Ländern Schuldige für Ihre vermeintliche Misere benötigen, müssen die Asiaten herhalten oder, in historisch logischer Konsequenz, wird eine grauenvolle Renaissance des Antisemitismus eingeleitet. Die Gespenster vergangener Zeiten scheinen mit aller Wucht wieder zu erwachen! Heute, nach den beiden verheerenden Weltkriegen, stehen wir möglicherweise erneut am Beginn einer ganz ähnlichen Situation wie damals: ein engstirniger Nationalismus, der sich gegen die Globalisierung richtet und zu sozialen Konflikten zwischen den „Vaterlandsverteidigern“ und den Kosmopoliten führt, schafft sich Raum in den Köpfen der Bürger. Man könnte auch sagen, dass es der Kampf zwischen den Stehengebliebenen und den Beweglichen, den gesellschaftlich Vernachlässigten bzw. Abgehängten und den sozial Gestaltenden und Aktiven, ist.

Uns Weinfreunden., die wir fraglos zu den großen Nutznießern des gegenwärtigen, globalisierten Zustandes gehören, obliegt es, zusammen mit all den anderen, die aus unserer offenen Gesellschaft Vorteile und Freude ziehen, diese mit aller Kraft zu bewahren. Dabei können wir ruhig und entspannt für unsere Heimat als ein Grundwert eintreten, aber wir  brauchen keine symbolbeladenen Vaterländer, für die wir angeblich „kämpfen“ müssen. Die Heimat ist tief in uns verwurzelt, dagegen hat das Vaterland nur äußere, vielfach auch willkürlich gezogene, Grenzen. Den Predigern von Hass und Missgunst in den sozialen Medien und auf der Straße müssen wir eine klare Absage erteilen, denn in ihnen leben die geistigen Wurzeln für persönlich oder politisch motivierte nationalistische Niedertracht. In der letzten Zeit mussten wir leider schon zu oft physische Gewalt im Zusammenhang mit einer schrecklich misanthropischen Weltanschauung erleben. Dass Kommunalpolitiker heutzutage Personenschutz benötigen ist unerträglich! Die Aufforderung an Europas Politiker und alle verantwortungsbewussten Bürger muss lauten: die bestehenden sozialen und ideologischen Spannungen nachhaltig abzubauen, andersnationalen und -religiösen Minderheiten einen sicheren Lebensraum unter uns zu verschaffen und für breite Aufklärung über die Grundlagen freiheitlich-demokratischen Zusammenlebens zu sorgen, damit die Gespenster von gestern bleiben wo sie waren: hinter verschlossenen Türen in der Abstellkammer der Geschichte!

Bleiben Sie stets neugierig… und durstig!

 

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