Mit der Feststellung ein bestimmter Wein sei ein Sol können die meisten Menschen nichts anfangen, aber versuchen wir der Sache einmal auf den Grund zu gehen: Jeder Weinliebhaber kennt trüben Wein. Wenn man das Depot aufgeschüttelt und danach dem Wein zu wenig Zeit zum sedimentieren gelassen hat, erscheint er naturgemäß trübe. Sobald der Bodensatz durch die Schwerkraft wieder da ist wo er hingehört ist der darüber stehende Wein klar. Es gibt aber eine Trübung, die sich nicht durch Stehenlassen bzw. durch Dekantieren der Flasche klärt und – bei Weißweinen besonders gut zu sehen – die Transparenz verändert und ein leicht-milchiges Erscheinungsbild zeigt. Der Chemiker nennt derartige Flüssigkeiten ein Sol, was nichts anderes als eine kolloidale Lösung ist, ähnlich der Tinte, dem Kaffee oder der Milch. Sole sind wässrige Lösungen in denen große organische Moleküle (Makromoleküle), die viel Wasser an sich binden und genau deswegen verharren sie in Flüssigkeiten, wie z. B. auch im Wein, in der Schwebe ohne sich abzusetzen („lyophile Sole“ in der Chemikersprache).
Was sind das für Makromoleküle die sich da im Wein befinden können und das sog. Sol bilden? Fast immer sind es die Polysaccharide, d. h. die Vielfachzucker vom Typ der Stärke oder Cellulose. Für den Wein relevante Pilze wie der Botrytis cinerea oder die Hefe Saccharomyces cerevisiae (Bier- und Weinhefe) enthalten in ihren Zellwänden nicht unbedeutende Mengen von sog. beta-Glucanen, einer bestimmten Sorte von Glucose-Polysacchariden. Sterben die Zellen ab geben sie diese beta-Glucan genannten Makromoleküle frei und es bilden sich die Kolloide im dann trüb gewordenen Wein. Botrytis infiziertes, fauliges Lesegut ist ein wichtiger Grund für den trüben Wein, der häufig auch kein Genuss mehr am Gaumen darstellt. Ganz anders sieht es bei den edelsüssen Weinen aus: auch hierbei kann eine kolloidale Trübung vorkommen, die ebenso Botrytis-bedingt ist, die aber in diesem Fall selbstverständlich kein Anzeichen für schlechte Qualität des Weins bedeutet.
Vinifikationsmethoden, bei denen der fertige Wein langen und intensiven Kontakt mit den Gärhefen behält, wie z.B. beim „sur lie“-Ausbau oder nach der barrique-Vergärung mit anschließender Battonâge, führen ebenfalls gelegentlich zu deutlichen kolloidalen Trübungen, die durch die freigesetzten beta-Glucane bedingt sind und Geschmack und Geruch nicht beeinflussen bzw. sogar einen angenehm cremigen Charakter vermitteln können.
Bei Winzern und Weinmachern erregen die sog. Pektine besondere Aufmerksamkeit. Diese sind pflanzliche Polysaccharide (sog. Polyuronide), die zur Gruppe der Schleimstoffe gehören und in vielen Früchten sowie auch in Weintrauben, je nach Rebsorte, in unterschiedlichen Mengen vorkommen. Pektine sind für die Viskosität eines Weines verantwortlich. Moste mit hohem Pektinanteil sind dickflüssiger und resultieren in runderen, vollmundigeren und ggf. auch „fettigeren“ Weinen, während pektinarme Moste weniger Körper besitzen und als Weine leichter zu trinken sind. Eine besondere Eigenschaft der Pektine ist ihre Fähigkeit Gele zu bilden. Da sie ein guter pflanzlicher Ersatz für die tierische Gelatine sind, finden sie in der Nahrungsmittelindustrie als Gelier- oder Verdickungsmittel breite Anwendung. Sie können selbstverständlich auch als kolloidale Lösung im Wein eine deutliche Trübung erzeugen.
Wirklich problematisch sind die Pektine aber in der frühen Phase der Weinbereitung, nämlich beim Pressen und Filtern der Trauben bzw. des Mostes. Ihre „schleimige“ Konsistenz kann zum Verstopfen von Poren und Röhren in den verschiedenen Vinifikationsgeräten führen. Ein hoher Pektingehalt kann auch einen erheblich höheren Druck beim Pressen der Trauben erfordern. Durch Zugabe von technischen Enzymen, die die Pektinmoleküle aufspalten können („Pektinasen“) kann man den Wein „handhabbarer“ machen und gleichzeitig noch die Mostausbeute erhöhen – allerdings auf Kosten der Weinqualität. Eine natürlichere Methode der Pektinreduktion ist die etwas längere Maischestandzeit. Davor müssen die Trauben angequetscht werden, dann wird das Ganze, d.h. Trauben und Saft, stehen gelassen um den in den Trauben vorhandenen pektolytischen (pektinauflösenden) Enzymen die Zerkleinerung der Makromoleküle zu erlauben. Als erwünschten Nebeneffekt erhält man mit dieser Methode auch deutlich vollmundigere und rundere Weine. Der enzymatische Pektinabbau ist übrigens auch eine der Quellen im Wein für den in wesentlich höheren Dosen giftigen Methylalkohol (Normalwerte zwischen ca. 20 und 200 mg/l).
Polysaccharide aus den Trauben oder aus den Zellmembranen der Gärhefen bzw. aus Pilzinfektionen wie der Botrytis haben vielfältige Effekte auf das Erscheinungsbild des Weins. Eine Trübung durch kolloidale Lösung von Polysacchariden muss kein Weinfehler sein, trotzdem stößt sie bei vielen Weinfreunden auf Skepsis, da sie einen Qualitätsmangel dahinter vermuten. Die Kenntnis der Zusammenhänge schützt, wie so oft im Leben, auch in dieser Situation vor falschen Urteilen.