„Kindermord“ beim Weintrinken?


Frei nach Friedrich Nietzsche: „Die Reife eines Weins kommt auf Taubenfüßen daher“ (original: Die großen Ideen kommen auf…)

Über die Flaschenreifung des Weines habe ich mich an dieser Stelle bereits vor einiger Zeit ausgelassen, möchte aber anlässlich einer Begebenheit nochmals auf dieses Thema zurückkommen: Bei einer Weinprobe unter Gleichgesinnten war ich von einem außerordentlich animierenden und fruchtbetonten Spätburgunder aus der Pfalz ganz begeistert. Da fiel mir ein anderer Genießer, der mir gegenüber saß, ins Wort: „Aber diesen Wein zu trinken ist doch reiner Kindermord!“ dozierte er mit bitterernster Miene. Obwohl ich den Begriff aus der Kriminalistik im Zusammenhang mit jungem Wein schon mehrfach gehört hatte (auch in der Variante „Babymord“) war ich wieder tief getroffen von der verbalen Hässlichkeit und Aggressivität dieser Aussage, die tatsächlich wie eine Anklage klang! Ich schämte mich beinahe denn in den Augen meines Gegenübers haben wir alle, die dem Öffnen der Flasche widerspruchslos zugesehen haben, Beihilfe zu einem Kapitalverbrechen geleistet, was in meinem speziellen Fall besonders verabscheuungswürdig war, weil ich beim Trinken des Mordopfers sogar noch Lust empfunden hatte.

Weniger rhetorisch geschulte Weinfreunde bezeichnen das verfrühte Öffnen einer vor kurzem abgefüllten Flasche eines Weins mit Reifepotential häufig auch einfach nur als „Vergeudung“ eines guten Tropfens. Einen Wein zu trinken, der noch nicht voll entwickelt ist, kann tatsächlich eine Verschwendung späterer Lustgefühle sein. Um die geschmackliche Entfaltung des Weins über die Zeit überhaupt abschätzen zu können muss man aber eine kürzlich abgefüllte Flasche für Testzwecke öffnen. Da führt kein Weg daran vorbei, es sei denn man verlässt sich blind auf einen der vielen Weinkritiker in der einschlägigen Presse. Bei manchen der großen Weine aus den bekanntesten Regionen liegen ausreichend empirische Daten vor, die eine Entwicklungsprognose auch ohne ständiges Verkosten ermöglichen. Voraussetzung für einigermaßen objektive Geruchs- und Geschmackserlebnisse sowie deren Projektion in die Zukunft ist allerdings, dass die Flaschen eines jeden Jahrgangs optimal und reproduzierbar gelagert werden. Trotzdem gibt es gelegentlich sensorische Entwicklungen, die völlig anders verlaufen als selbst eine langjährige Erfahrung hätte voraussehen können!

Zurück zu der eingangs erwähnten Anschuldigung des Kindsmordes beim Genuss eines jungen Spätburgunders. Die Feststellung dass Geruch und Geschmack außerordentlich subjektive Sinneseindrücke sind klingt irgendwie banal, ist es aber nicht, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis der Urteile anderer. Auch kulturelle Einflüsse spielen bei den durch Weingenuss ausgelösten  Empfindungen eine wichtige Rolle. Die führende Weinjournalistin Jancis Robinson hat schon vor Jahren darauf hingewiesen („Vintage timechards“, Mitchell Beazley, London 1989), dass die Franzosen die Weine erheblich jünger trinken als die meisten anderen Völker. Die Briten dagegen seien regelrechte „Weinnekrophile“, da sie  größten Wert auf Reifetöne und entsprechend lange Lagerung legen. In Skandinavien herrsche die Meinung vor, so die Autorin, dass ein guter Wein älter als der jeweilige Genießer sein solle. Zwischen diesen Extremen pendelt der Geschmack der meisten Weinfreunde und ich persönlich bekenne mich zur „Jugendliebe“, denn ich mag es wenn im Weißwein noch frische Säure und vielleicht sogar Hefe- und/oder Yoghurttöne von der Gärung bzw. dem biologischen Säureabbau zu finden  und im Rotwein die Mundfülle und herausfordernde Aggressivität von Tanninen sowie die Süße des Holzes zu spüren sind.

Die Biochemie des Weines ist in den letzten Jahren intensiv erforscht worden und in Bezug auf die Trinkreife, bzw. die erwähnten Geschmackskriterien  hat man herausgefunden, dass sich insbesondere die Tannine, aber auch Anthocyane und gewisse organische Säuren, in der Flasche zu größeren Molekülen zusammenschließen können – in der Fachsprache der Chemiker heißt dieser Prozess „Polymerisation“ – und dadurch vieles von ihrer geschmacklichen Aggressivität verlieren. Aus der subjektiven Sicht des Weintrinkers gibt es für jeden Wein ein optimales Zeitfenster, in dem die Balance von biochemischer Veränderung und geschmacklicher Vollendung zu finden ist. Was vorher war und hinterher sein wird ist für den individuellen Genießer meist von geringerem Interesse und jede geöffnete Flasche aus diesen frühen bzw. späten Entwicklungsperioden kann eine vergeudete Flasche sein. Dem kann ich persönlich nicht ganz zustimmen, denn ich finde, dass gerade das Erlebnis der Entwickungsdynamik eines Weins enormes Vergnügen bereitet. Es ist nicht verkehrt Duft und Geschmack eines guten Wein mit der Psyche eines Freundes oder einer Freundin zu vergleichen: zwischen jugendlichem Ungestüm und Altersweisheit spielt sich alles ab und in jeder Phase bleiben Mensch und Wein liebenswert.

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