Seit den Tagen des ersten Booms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die Weingüter und deren Winzer in der Rioja voll und ganz dem jeweils herrschenden Publikumsgeschmack verschrieben. Damals war es die Rotwein-Stilistik von Bordeaux, der man nacheifern musste, nachdem die Rebgärten an der Gironde fast vollständig der Reblaus zum Opfer gefallen waren und französische Händler Ersatz jenseits der Pyrenäen suchten. Lange später kam irgendwann Robert Parker und propagierte einen fruchtig-saftigen und Tannin-betonten Stil. Man folgte bereitwillig, denn Parker-Punkte versprachen ja gute Umsätze.
Langsam beginnt jetzt das Pendel umzuschlagen: Finesse und Eleganz im Rotwein sind wieder gefragt, und die Rioja liefert! Bei den Weißweinen war es nicht viel anders. Anfangs wurden sie noch wie Rotweine im Barrique ausgebaut, dann sollten sie jung, frisch und süffig sein und auf der Strecke blieb leider allzu oft die ursprüngliche Persönlichkeit der Weißweine vom oberen Ebrotal. Jetzt suchen die Konsumenten wieder nach Komplexität im Geschmack der Weißen – und etliche Kellereien der Rioja haben auch diese Entwicklung aufgegriffen .
Als in den 60iger Jahren des 20. Jahrhunderts die Stunde der Rebsorte Viura (in anderen Regionen Macabeo genannt) zu schlagen begann und die jungen weißen Riojas bei Weinfreunden im wahrsten Sinne des Wortes, in aller Munde waren, rebellierte der Urenkel des Firmengründers der Bodegas „Marqués de Riscal“ Francisco Hurtado de Amézaga gegen die Vorherrschaft der Viura-Rebe, von deren Qualität er überhaupt nicht viel hielt. Seine Önologen wurden in der ca. 250 km entfernten, kastilischen Region von Rueda mit der dort autochthonen Verdejo-Rebe fündig. Im Jahr 1970 begann Riscal in Rueda schließlich eine eigene Kellerei für Weißweine zu bauen. Es wurde eine unbeschreibliche Erfolgsgeschichte daraus, die in die Rioja zurückstrahlte und viel Diskussionen über die verschiedenen Aspekte der Rioja-Weißweine auslöste.
Motor der daraus entstandenen Bewegung war die Estación Enológica de Haro (Weinversuchsanstalt) und ein damals noch junger und rebellischer Weinmacher: Telmo Rodriguez vom Gut Remelluri. Er hatte bereits in den 80iger Jahren auf den höchsten Lagen der „Granja de Nuestra Señora de Remelluri“ seines Vaters neun verschiedene, weiße Reben gepflanzt. Seine Idee dabei war eher konservativ und vom klassischen Châteauneuf-du-Pape geprägt: in einer Cuvée aus vielen unterschiedlichen Sorten sollte keine besonders herausstechen sondern nur das spezifische Terroir, welchen ja allen gemeinsam war, sollte den Charakter des Weines bestimmen. Neun Sorten wurden gepflanzt: Moscatel, Chardonnay, Garnacha Blanca, Sauvignon Blanc, Viognier, Viura, Malvasía, und die Rhône-Sorten Marsanne und Roussanne. Aus den jeweils getrennt gelesenen und vergorenen Jungweinen wurde eine Assemblage zusammenfügt und 18 Monate im Barrique ausgebaut. Was am Ende dabei in die Flaschen kam hat die Kritiker und Weinfreunde in aller Welt gleichermaßen begeistert. Dieser Erfolg war Motivation genug die bisherige konservative Politik des Kontrollrates, die sich bei den weißen auf die traditionellen Rebsorten Viura und Malvasía konzentriert hatte, aufzugeben und auch andere Sorten offiziell zuzulassen. Dies ist mittlerweile geschehen und das autorisierte weiße Rebsortenspektrum der Rioja besteht heute aus Viura, Malvasía, Tempranillo Blanca, Maturana Blanca, Garnacha Blanca, Chardonnay, Sauvignon Blanc und Torrontés.
Die meisten Winzer in der Rioja gaben sich bislang trotzdem eher traditionsbewusst und pflanzten nur wenige der neuen Sorten um eine weiße Cuvée zu machen. Dem Tempranillo Blanco (eine Spontanmutation des roten) wurde allerdings häufiger die Ehre eines reinsortigen Ausbaus erwiesen. Feine und schmackhafte Beispiele für den Charakter eines 100 %igen weißen Tempranillo sind die Einzellagen-Weine „ Vinos Singulares de Viña Pomal“ sowie „Inspiración Valdemar Alto Cantabria“. Charakteristisch für all diese Weine ist ihre beerige Fülle mit ganz zarten Bitternoten. Mittlerweile gibt es eine relativ große Auswahl an weißen Tempranillos in der Rioja, einschließlich teurer und exklusiver „Autorenweine“ (z.B. „Viuda Negra“ – die schwarze Witwe – aus Einzellagen in Laguardia von San Pedro Ortega). Der Chardonnay wird meist in Cuvées (zu ca. 20 – 60 %) mit dem Viura benutzt und gibt diesen Weinen zusätzliche Struktur. Ähnlich auch der Garnacha Blanca, der im weißen „Remirez de Ganuza“ schließlich zu einem ganz außergewöhnlichen Weinerlebnis wird. Auch den Verdejo hat man, nach dem Vorbild der Region Rueda, mit Viura zu einem frischen Wein vermählt. Man spürt sehr deutlich, dass die Rioja im Sektor der Weißweine jetzt endgültig Anschluss an die Dynamik im restlichen Spanien erhalten will. Dass man dabei auf eine lange Tradition zurückblicken kann, beflügelt manche Kellerei tatsächlich auch mal neue Wege zu gehen und wir, die Genießer, können gespannt auf die Weißweine der nahen Zukunft in der D. O. Ca. Rioja sein. Die Prototypen sind schon da!
In diesem Zusammenhang sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass manche Kellereien noch immer die Weißweintradition des 19. Jahrhunderts, selbstverständlich mit einigen technischen Modernisierungen, hochgehalten: Muga und López de Heredia, beide im Bahnhofsviertel von Haro beheimatet sind gute Beispiele dafür. Der Barrique-vergorene weiße Muga ist eine fruchtig-florale Cuvée aus Viura, Malvasía und Garnacha Blanca, während beim viele Jahre gereiften Klassiker „Viña Tondonia“ (Viura, Malvasía) neben der Frucht wunderbare Reifetöne, die an Bergkräuter und verschiedene Gewürze erinnern, zu finden sind. Diese Weißwein–Stilistiken haben ihre Liebhaber-Gemeinde und werden hoffentlich auch weiterhin entsprechend gehegt und gepflegt.