In der heutigen Erlebnisgesellschaft muss man ständig in Bewegung sein und etwas unternehmen um bloß nichts zu verpassen. Da ist das Wort Melancholie völlig obsolet. „Uncool!“ bescheinigen einem die jungen Leute, wenn man das Thema auch nur streift. Trotzdem gibt es sie, ja muss es sie geben: die Melancholie gehört zur Essenz des Lebens, sie ist eine Grundstimmung des Menschen genau wie Freude oder Trauer. In der Romantik nannte man es den „Weltschmerz“, der jedes Individuum von Zeit zu Zeit erfassen konnte und den keiner schöner und einfühlsamer auf die Leinwand pinselte als Caspar David Friedrich. Seinen Ursprung hat der Begriff „Melancholie“ im griechischen melas (=schwarz) und cholé (= Galle), also der schwarzen Galle aus der antiken, von Hippokrates aufgestellten, „Viersäftelehre“. Der berühmte griechische Arzt Galenos von Pergamon (Galen) hat ein paar Jahrhunderte später eine Vermehrung der schwarzen (verbrannten) Galle im Blut als Ursache der Melancholie gedeutet und die vier Temperamente in das medizinische Denken eingeführt (Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker) Das Element des Melancholikers war die Erde und seine Sternbilder der Skorpion, der Stier und die Waage.
Schon früh haben Ärzte in der antiken Medizingeschichte eine gewisse Ähnlichkeit von dunklem Wein und schwarzer Galle festgestellt. Dank extensiver Oxydation waren im Altertum auch manche Weißweine tief dunkel (siehe noch heute manche Sherrytypen und andere „Südweine“!). Die seelische Verfassung, die Wein in genussgerechten Mengen zu sich genommen, erzeugen kann kann der der Melancholie sehr ähnlich sein. Bei höheren Dosen kommt es dann allerdings zu erhöhtem Redefluss, zur Aggression und schließlich zur Betäubung, die letztendlich in die Depression führen kann. Das hat dann mit dem Weltschmerz der Romantiker garnichts mehr zu tun. Depression und Melancholie sind zwei grundverschiedene Zustände, die keinerlei Verbindung miteinander haben. Als Lebensträger im Körper wurden gemäß der Theorie des Hippokrates und Galen gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim angenommen. Das waren, historisch gesehen, die Vorläufer der heutigen Botenstoffe wie z.B. der Hormone und der Antikörper. Manche Weingenießer bekennen, dass sie Rotwein tatsächlich melancholisch macht, was bei entsprechenden Mengen Weißwein häufig nicht der Fall ist.
Eine besondere Bedeutung in der „Humoralpathologie“ (Viersäftelehre) hatte auch die Luft. Die Vermischung der „Lebenssäfte“ mit Luft, insbesondere der schwarzen Galle, veränderte deren Wirkung im Körper grundlegend. Genau wie mit der schwarzen Galle ist es beim Wein: beide können sich mit Luft vermischen (Oxydation!). Wie man einst glaubte schienen der Schaum des Weins dies ebenso wie die Blähungsbeschwerden und die Aufgedunsenheit des Melancholikers zu beweisen. Beide Säfte, Wein und schwarze Galle, haben durch ihr sog. „Pneuma“ aphrodisierende Wirkung bekommen und führen sowohl beim Melancholiker als auch beim Weintrinker zur Wollust und zur Liebesleidenschaft. Ich habe an dieser Stelle schon vor einiger Zeit vom Wein als potentem Aphrodisiakum gesprochen und, wie wir sehen, wurden identische Beobachtungen bzw. Beschreibungen schon in der Antike gemacht. Hier klingt das Zusammenspiel von Melancholie, Wein und Eros als Mittler zwischen Sinnlichem und Geistigen sehr deutlich an. Obwohl die Viersäftelehre längst aus der Medizin verschwunden ist, war sie in vieler Hinsicht gedanklich die Grundlage der modernen, biochemisch orientierten Heilkunde.