Paulskirchen-Jubiläum: auch ein Gedenken des Scheiterns?

Einzug der Mitglieder des sog. Vorparlaments in die Frankfurter Paulskirche, Holzstich, 1896 mit späterer Kolorierung

Ich sitze in einem Straßen-Café auf dem Frankfurter Paulsplatz, schlürfe einen Espresso, betrachte die unzähligen Touristen, die mit Bussen an- und abfahren und denke an das Paulskirche-Bild im nahegelegenen Frankfurter Historischen Museum. Darauf sieht man den mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückten Platz, auf dem am 18. Mai 1848, die Mitglieder des sog. Vorparlaments, eskortiert von Militärformationen, in die Kirche, ihren Tagungsort, ziehen.  Die mir gegenüberliegende, heutige Paulskirche sieht zwar ähnlich aus wie auf dem kolorierten Holzschnitt, aber eben nicht ganz: es fehlt die Kuppel über dem Plenarsaal, den im Inneren zu restaurieren man sich nach dem 2. Weltkrieg erst garnicht die Mühe gab. Bereits von 1947 bis 1948 wurde das Gebäude nach alten Plänen  durch spärlich fliessende Spenden der Bürger aus dem ganzen Land wieder aufgebaut. Warum die Eile? Die Geschichte der Paulskirche als erste Heimat einer demokratisch legitimierten, deutschen Nationalversammlung sollte, zusammen mit dem von ihr erarbeiteten Katalog der „Grundrechte des deutschen Volkes“, die ideelle Basis der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland werden, und die Pauskirche war deren sichtbares Symbol.

Die Begeisterung für das vereinigte Deutschland und die Demokratie hatte auch einen meiner Vorfahren, nämlich den jungen Heinrich Hilgard (1835 – 1900) begeistert, der in die Vereinigten Staaten auswanderte, sich dort Henry Villard nannte, die „Northern Pacific Railway“ gründete und ein erfolgreicher Wirtschafts-Tycoon wurde. Heinrich kam als junger Mann nach Frankfurt, wohnte bei einem Verwandten und ging fünf  Mal aus Neugier und Schwärmerei in die Paulskirche um Parlamentssitzungen als Zuschauer beizuwohnen. Bevor er wieder abreiste kaufte er sich einen „Heckerhut“ als äußeres Zeichen seiner freiheitlichen Gesinnung. Der Heckerhut war ein breitkrempiger Filzhut mit einem spitz zulaufenden Kopf. Er wurde von den italienischen Freiheitskämpfern 1848 unter der Bezeichnung „Kalabreser“ getragen. Der badische Revolutionär Friedrich Hecker (1811–1881) hat ihn, mit einer langen roten Feder versehen, bei der deutschen Jugend zum Symbol für die Republik und die Demokratie gemacht. Der Heckerhut war damals vermutlich nichts anderes als 150 Jahre später das Barett von Che Guevara (1928 – 1967). Während ich noch auf dem Paulsplatz sitze und auf das Portal der Kirche schaue, sehe ich Heinrich vor mir und werde fast angesteckt von seinem Enthusiasmus für das erste Parlament auf deutschem Boden. Dann ergriffen mich Melancholie und Traurigkeit bei dem Gedanken an das damals schmähliche Ende des deutschen, revolutionären Geistes. Die Geschichte des Scheiterns ist komplex aber in der Essenz waren es wohl die Gier nach Macht bei den deutschen Fürsten und die Überheblichkeit des Königs von Preußen, die zu den Totengräbern der Paulskirchenverfassung wurden. Mit Hilfe der preußischen Armee wurden die vielen kleinen Aufstände, die das neue Grundrecht in allen Teilen Deutschlands endlich etabliert wissen wollten,  niedergeschlagen. Um sich dem Berliner Einfluss zu entziehen, siedelte das Parlament 1849  nach Stuttgart um in der trügerischen Hoffnung außerhalb der preußischen Einflusssphäre zu sein. Damit war aber das Ende eingeläutet, denn viele der Parlamentarier gaben ihr Mandat zurück und verschwanden in der biedermeierlichen Häuslichkeit jener Tage.

Siebzig Jahre später hatte das deutsche Volk sich endlich von der preußischen Monarchie losgesagt, der ausrangierte Hohenzollern-Kaiser grollte im holländischen Exil und in Weimar etablierte man erneut eine Demokratie auf der Basis der von der Frankfurter Nationalversammlung erarbeiteten Verfassung. Deutschland schien in der sog. „Weimarer Republik“ kurz aufzublühen. Es war wieder der preußische Militarismus, diesmal in der Person des Generalfeldmarschalls a. D. Paul von Hindenburg der, als Reichskanzler, den zweiten Demokratieversuch zu Grabe trug. Ohne wirkliche, politische Notwendigkeit ernannte er am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zu seinem Nachfolger. Offenbar war ihm die abstruse Persönlichkeit dieses Mannes nicht aufgefallen und tatsächlich: acht Wochen später, mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, war die Demokratie abermals abgeschafft und ein Willkürstaat etabliert.

Nachdem 1945 Deutschland in Schutt und Asche versunken war sollten die drei Westzonen den erneuten Versuch zur Bildung eines demokratischen, deutschen Staatswesens unternehmen. Als Geburtshelfer traten die Militärgouverneure der drei Alliierten auf, die über ausreichend Demokratieerfahrung verfügten. Wieder war es die Paulskirchenverfassung, die die Grundlage des vom sog. Parlamentarischen Rat erarbeiteten Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bildete. Preussen wurde abgeschafft und seit der ersten Wahl zum neuen Bonner Bundestag am 14. August 1949  ist mittlerweile beinahe ein Dreiviertel Jahrhundert vergangen und es scheint, dass wir es diesmal geschafft haben! Die Stabilität unserer Demokratie ist bei den allermeisten Bürgern  zur Gewissheit geworden und kaum jemand weint den großen Verhinderern aus Preußen mit Namen  Kaiser Wilhelm II oder Paul von Hindenburg nach. Diese tröstliche Erkenntnis erinnert mich an eine Aussage des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset (1883 – 1955): „Die Vergangenheit lieben heißt begrüßen, dass sie tatsächlich vergangen ist, dass die Dinge ihre Augen, Ohren und Hände verletzende raue Unmittelbarkeit verloren und sich zu jenem reineren und echteren Leben emporgeläutert haben, das ihnen in der Erinnerung beschieden ist.”

Jetzt kann ich den Kellner rufen, bezahlen und guten Gewissens mit der Erinnerung an meinen Uronkel Heinrich und die deutsche Geschichte nachhause gehen!

Bleiben Sie stets neugierig …und genußvoll durstig!

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