Wenn es nach der Anzahl von internationalen Auszeichnungen oder Ehrenpreisen ginge, müsste man annehmen, dass Arvo Pärt (geb. 1935) aus Estland der bedeutendste Komponist unserer Zeit sei. Ein Urteil darüber steht mir nicht an, aber ich gebe zu, dass seine Musik für mich der Einstieg in die faszinierende Welt der Neuen Einfachheit war. Die zwanzig Minuten seiner Klavierkomposition „Für Alina“ , man denkt bei dieser Überschrift unweigerlich an Beethovens „Für Elise“, mit der die Alina aber überhaupt nichts zu tun hat. Dafür enthält sie vieles von dem, was Pärts Musik ausmacht: Einfachheit, Glockenklang („Tintinnabuli-Stil“). Stille, Meditation, Schönheit, klangliche Kontraste und maximale Freiheit des Interpreten. Gleichzeitig ist „Für Alina“ der Prototyp minimalistischer Musik und ich spüre die Verpflichtung in mir die asketische Klarheit dieser Musik nicht kaputtzuschreiben, d.h. durch meine erklärende Worte zu zerstören. Pärt selbst schrieb über das Stück „Für Alina“: „Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt.« Das lateinische Wort Tintinnabulum bedeutet Glockenspiel und soll, laut Pärt, auf das Klingeln des Dreiklanges, der das Musikstück durch seinen ganzen Verlauf begleitet, verweisen. Es scheint mir, dass die Reduktion des Klangmaterials auf das absolut Wesentliche, den Dreiklang und die karge Melodie, der Schlüssel zum Verständnis von Pärts Musik sein kann. Was „das Wesentliche“ allerdings ist, muss jeder Zuhörer ganz alleine für sich selbst definieren. Ein offensichtlicher IT-Freak namens Fabian Schneider hat eine Software entwickelt, den „Arv-o-mat 1.10,“ die zum Erstellen und späteren Spielen von Tintinnabuli-Stimmen im Stile Arvo Pärts, dient.
Der Arv-o-mat könnte ein Hinweis darauf sein, dass eines Tages KI (Künstliche Intelligenz), wie Bücher schreiben, auch Musik komponieren können wird. Denkbar ist es, ganz besonders wenn man an die minimalistische Musik von Arvo Pärt denkt. Ich habe den Verdacht, dass diese Töne von Pärt, aber auch die von Satie und Mompou erst im Kopf des Zuhörers zu einem Ganzen, d.h. zu einem musikalischen Erlebnis zusammengefügt werden. Immer wieder erfährt man beim Zuhören der Musik dieser drei Komponisten, dass sich hinter den wenigen Tönen eine immense intellektuelle und emotionale Tiefe offenbart. Bin ich das alleine, ist das der mit mir ergänzte Komponist oder ist es der Dialog zwischen ihm und mir was diese Erkenntnis bewirkt? Nicht mehr komponieren als zu komponieren notwendig ist ein Musikstil, der immer näher an die komplette Stille rückt. Dies bringt mich irgendwie näher an die Grenzen der Musik: unversehens taucht die Frage auf was denn Musik eigentlich sei? Die jüngsten Komponisten dieses Genres nennen sich bereits „Zweite Neue Einfachheit“. Wird es eine „Dritte“, „Vierte“ und „Fünfte“ geben? Irgendwann enden wir dann nur noch beim reinen Klang, etwa wie beim „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt“ von Halberstadt, welches insgesamt 627 Jahre dauert. Den Wechsel von einem Ton zum anderen erlebt der Zuhörer garnicht oder rein zufällig. Wenn er Pech hat hört er zwischenh den Tönen überhaupt nichts. John Cage will neue Hörerlebnisse schaffen und „Klänge einfach Klänge sein lassen“. dabei definiert er nicht welche Beschaffenheit Klänge haben müssen müssen, es können selbstverständlich auch Geräusche oder, wie wir gesaehen haben, ganz besondersw die Stille sein. Mir scheint dass Cage hier die Türe zur „musique concrète“ mit ihren Alltagsklängen weit aufgestoßen hat.
In der Musik Arvo Pärts passiert allerdings das genaue Gegenteil: in ihr gehört die Stille zu einem der wichtigsten Elemente. Andererseits gibt es selbstverständlich enge Zusammenhänge von der Stille mit der Musik. Stille ist auf keinen Fall ein „akustisches Nichts“. Stille ist ein aktiver Prozess, der um uns herum, aber auch in uns selbst, abläuft. Kurt Tucholsky (1890- 1935) hat es auf den Punkt gebracht: „In der vollkommenen Stille hört man die ganze Welt“. Obwohl Stille ein universeller Begriff in vielen Lebensbereichen ist und für die Abwesenheit von Geräuschen steht, ist sie in der Musik etwas sehr Spezielles, allerdings auch mit vielen Facetten. Stille kann als Ergebnis der Lärm-Vermeidung, auch erhebliche Konsequenzen für unsere sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit haben. Alles klingt, schmeckt und riecht intensiver wenn unser Gehör nicht abgelenkt wird. Goethes „Wandrers Nachtlied“ hat mich seit meiner Jugend begleitet und schon damals habe ich die Stille tief empfunden und gespürt, dass das einzig störende an der poetischen Situation das Gedicht selber war: durch seine vom Menschen gemachte Existenz unterbrach es ja die Stille. Erst der Tod, die Abwesenheit des Menschen, wird die ersehnte Stille bringen, dachte ich damals. Heute weiß ich, dass auch die Stille „gehört“ werden muss, also – wie die Musik – ohne den lebendigen Menschen nicht in der uns bekannten Weise vorhanden sein kann. So ist vermutlich auch Arvo Pärts stille Musik zu verstehen.