Gesellschaftliche Diskriminierungen und die eigene Nase

Fremd bei uns, heimisch in Indien: Hindu-Frauen (Jeder von uns ist fast überall auf der Welt ein Ausländer). Bildausschnitt aus dem „Calwer historischen Bilderbuch der Welt“. Stuttgart & Calw,  1883.

Die eingeschränkte physische Mobilität im sog. „Lock-down“ regt verstärkt zum Denken an: wenn man einer früheren Erhebung der Universität Leipzig Glauben schenken will, muss man sich damit abfinden, dass 27 % der Deutschen die Meinung vertreten, die Bundesrepublik sei durch die vielen  Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet. Während in dieser Statistik Antisemitismus in unserem Land nur von etwa 10 % der Befragten gutgeheißen wird geht die Ablehnung von Sinti und Roma sowie Muslimen wesentlich weiter und wird von etwa der Hälfte der Befragten geteilt. Alleine diese paar Zahlen lassen bereits vermuten, dass es in unserem Land tatsächlich ein ernst zu nehmendes Problem mit der Diskriminierung von Mitmenschen gibt. Insbesondere Personen mit Migrationsgeschichte leiden häufiger als die sog. „Einheimischen“ unter Behinderung der Verwirklichung ihrer Freiheiten und Chancen. Man denke nur an die Vergabe von Ausbildunggsplätzen an Jugendliche mit fremdländischen Namen; das gilt gleichermaßen beim Kontakt mit Vermietern bei der Wohnungssuche. Aber nicht nur Migranten und deren Nachkommen werden diskriminiert, die unterschiedlichen Löhne für gleiche Arbeit bei Männern und Frauen sprechen Bände, ebenso wie der Ausschluss von Frauen vom Priesteramt in der katholischen Kirche! Auch Behinderte können ein Lied von ihrer potentiellen Diskriminierung singen, immer noch ganz zu schweigen von Menschen mit von der Mehrheit der Bevölkerung abweichender sexueller Orientierung.

Ein Fall für sich, weil im Bewusstsein der Gesellschaft nur sehr lückenhaft vorhanden, ist die Altersdiskriminierung. In manchen asiatischen Gesellschaften verdienen die „Alten“ erheblichen Respekt, denn es wird angenommen, dass sie über mehr Erfahrung und Weisheit verfügen als der Rest der Bevölkerung und daher werden sie verehrt und spielen eine entsprechende Rolle in der Familie und in der Öffentlichkeit. In unseren Breitengraden denkt die Gesellschaft, wenn von alten Menschen die Rede ist, an Demenz mit ständiger Pflegebedürftigkeit und die nachfolgende Belastung der Rentenkassen bzw. des Gesundheitswesens. Vielfach ist Alter gar ein Ausschlusskriterium für bestimmte Jobs und wem jenseits der 50 gekündigt wird, der bleibt im Zweifel für den Rest seines Lebens arbeitslos. Die Gefährdung des Straßenverkehrs durch älteren Mitbürger, die Grund genug für deren Diskriminierung auf dem Asphalt ist, gehört in den Bereich der Legende: wie die Unfallzahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, verursachen deutlich mehr junge als ältere Erwachsene Verkehrsunfälle. Die Altersdiskriminierung in unserer Gesellschaft ist ganz besonders absurd wenn man bedenkt, dass die Täter von heute immer die Opfer von morgen sind!

Fassen wir uns doch mal an die eigene Nase: hat sich nicht so gut wie jeder von uns schon mal diskriminierend im oben aufgezeigten Sinne verhalten? Wenn das alte Mütterchen an der Kasse umständlich die Münzen im Portemonnaie zählt und damit den ganzen, nachfolgenden Zahlungsverkehr lahm legt oder ein Farbiger am Sicherheitscheck im Flughafen nicht versteht, dass er die Mineralwasserflasche abgeben muss und mit dem Beamten stundenlang in unverständlichem Kauderwelsch diskutiert, dann fällt es manchmal schwer nicht über „die Alten“ oder „die Nicht-Deutschen“  aggressiv zu räsonieren, obwohl wir es selbstverständlich besser wissen müssten. In der Polizeiarbeit wird häufiger von „racial profiling“ (rassistische Profilerstellung) gesprochen, wenn von polizeilichen Maßnahmen wie Identitätskontrollen oder Befragungen alleine aufgrund von vermuteten rassischen oder ethnischen Merkmalen der Person, die Rede ist. Nicht nur die Sicherheitskräfte, auch der „stinknormale“ Bürger neigt zur Erstellung von Profilen ganzer Gruppen von Menschen, „sexual profiling“ oder „age profiling“ könnte man diese Einstufungen vielleicht nennen. Wer derartigen Profilerstellungen durch andere Gruppen der Gesellschaft mit all ihren Konsequenzen ausgesetzt ist, kann erheblich darunter leiden, physisch und psychisch.

Von Seiten der Politik wird uns ständig versichert, dass es in Deutschland keine institutionellen Diskriminierungen mehr gibt. Dies mag auf dem Papier so sein, aber die Lebenswirklichkeit sieht leider völlig anders aus. Den sog. „Sozialen Medien“ kommt dabei eine negative Schlüsselrolle zu. Durch die „Hate Speech“, die sogar vor strafbaren Inhalten nicht zurückscheut, werden Menschen beleidigt und hochgradig abgewertet. Es handelt sich tatsächlich um eine moderne, häufig sehr aggressive Art der Misanthropie. Ob man diesem menschlichen Verhalten durch seine Kriminalisierung, z. B.  wegen Verstoßes gegen Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“) Herr werden kann, darf bezweifelt werden. Zur Überwindung der Menschenfeindlichkeit bedarf es der Humanisierung, oder besser gesagt vielleicht der Re-Humanisierung, unserer Gesellschaft und des uneingeschränkten Bekenntnisses zu Artikel 1 unserer Verfassung.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit meiner Texte wähle ich, traditionsgemäß, die männliche Form. Die Formulierungen beziehen sich in aller Regel jedoch auf Angehörige aller Geschlechter, von denen  ich keines diskriminieren möchte!

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