Ein Meisterwerk der Opernliteratur ist ein „Plagiat“!

Die Partitur von Sebstian Yradiers „El Arreglito“ .

Das polyphone Stimmen der Instrumente im Orchestergraben verstummt, der scharlachrote Samtvorhang öffnet sich und wir, die Zuschauer, schauen auf die alte Tabakfabrik in Sevilla. Dort stehen Soldaten gespannt gestikulierend vor dem Eingang, sie scheinen auf die Mittagspause der Arbeiterinnen zu warten. Kurze Zeit später betritt Carmen, eine von ihnen, die Bühne und wird sofort von Männern umringt. Stolz wehrt sie sich gegen die maskulinen Aufdringlichkeiten und beginnt zu singen „L’amour, L’amour est un oiseau rebelle“ (Die Liebe, die Liebe ist ein rebellischer Vogel). Die nun folgende Arie ist einer der Höhepunkte der gesamten Opernliteratur. Sie charakterisiert die Person der Carmen auf geniale Weise: lebensfroh und emotional, dabei selbstbewusst und beherrscht. In der rhythmischen Musik George Bizets offenbart sich die ganze Leidenschaft und Erotik dieser grandiosen Frauenrolle. Mit dieser Musik hat der Komponist sein Werk bereits im ersten Akt auf die ewige Hitliste aller Opernfreunde gesetzt.

Vor Kurzem habe ich mir die „Symphonie Espagnole“ von Édouard Lalo auf einer CD angehört. Wie Bizets „Carmen“ ist auch dieses Musikstück der französischen Hispanophilie des 19. Jahrhunderts geschuldet. Auch Debussy („La Soirée en Granade“)  und Ravel („Bolero“) haben sich ja bekanntermaßen für das Thema Spanien engagiert. Obwohl weder Bizet noch Debussy je in Spanien waren, haben beide den spanischen Geist musikalisch exakt erfasst. Im dritten Satz (Intermezzo) mit der Tempobezeichnung „Allegretto non troppo“ von Lalos eingängiger Musik hört man ganz deutlich die unverwechselbare Tonfolge und Rhythmik von „L´amour est un oiseau rebelle“. Lalos Symphonie, die ja streng genommen ein Violinkonzert ist, entstand im Jahre 1875 und wurde in Paris uraufgeführt, wo der legendäre Pablo de Sarasate den Bogen schwang. Im gleichen Jahr fand die Premiere von Carmen in der Pariser Opera Comique statt. Der zeitliche Ablauf der Entstehungsgeschichte beider Werke kann uns demnach kaum Aufschluss darüber geben wer von wem kopiert haben könnte.

Des Rätsels Lösung liegt ganz woanders und trägt den altertümlichen spanischen Namen „El Arreglito“ (zu deutsch „die wilde Ehe“).  Dies war der Name einer Habanera, die der spanische Komponist Sebastián Yradier 1863 geschrieben hatte. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass dieses Musikstück die exakte Vorlage für beides, „L´amour est un oiseau…“ und die Melodie des „Allegretto non troppo“ von Lalo war. Sebastián Yradier ist einer der wenigen baskischen Komponisten, der in die Musikgeschichte eingegangen ist, streng genommen eigentlich nur wegen zwei seiner Habaneras. Als der Professor des Madrider Konservatoriums 1861 nach Cuba reiste muss er sich total in den nach der Hauptstadt benannten Tanz im 2/4-Takt verliebt haben und begann selbst Lieder und Tänze „à la Havanna“ zu schreiben. Drei Jahre später, 1864, veröffentlichte er seine Liedersammlung in Paris, wo er u. a. zeitweise Gesangslehrer der Kaisern Eugénie, einer Spanierin aus Granada, war. Ihr Titel  „Fleurs d´Espagne“ hat zweifelsohne sowohl Bizet als auch Lalo neugierig gemacht und beide haben das musikalische Potential des darin enthaltenen Habaneras „El Arreglito“ für ihre jeweiligen Kompositionen sofort gesehen und verarbeitet. Übersehen haben sie dabei erstaunlicherweise eine andere Habanera der Sammlung: „La Paloma“. Dieses Liebes- und Abschiedslied aus Havanna hat trotzdem aus eigener Kraft die Welt erobert und wurde in den letzten beiden Jahrhunderten international zum musikalischen Synonym für Spanien und von sehr vielen Sängern und Sängerinnen in allen Sprachen millionenfach auf Tonträger verkauft. Heute wäre Sebastián Yradier von seinen Tantiemen unendlich reich. Als er 1865 im Alter von 56 Jahren im baskischen Vitoria/Gasteiz starb, hatte er lange Jahre von der kargen Entlohnung eines Staatsbeamten gelebt.

Von Édouard Lalo wissen wir nichts über seine Einstellung zu Yradier und dessen „El Arreglito“. Obwohl die „Symphonie espagnole“ überall ein Riesenerfolg war, war es vielleicht das Zeichen einer gewissen Ablehnung des Plagiators, dass das Boston Symphony Orchestra bereits 1887 das „Intermezzo“ aus der Partitur verschwinden ließ, eine Praxis, die sich danach weltweit etablierte. Erst 1933 hat Yehudi Menuhin das kleine Juwel wieder ausgegraben und einem erstaunten Publikum erneut vorgestellt. Seither ist es wieder gleichberechtigter Teil der „Symphonie Espagnole“. George Bizet verhielt sich da ganz anders: Als man ihn auf Yradier und seine Habanera ansprach gab er sofort zu, dass diese nicht von ihm stammte, allerdings wusste er angeblich nichts von der Urheberschaft Yradiers sondern war irrigerweise der Überzeugung, dass es sich um spanische Folklore handelte. Die Habanera sei „einem spanischen Volkslied nachempfunden“ soll sich Bizet geäußert haben.   Für Bizet war die Bekanntschaft mit „El Arreglito“ einst die Rettung seines ganzen „Carmen“-Opernprojektes, denn als Premierenbesetzung war der Opern-Star Célestine Galli-Marié vorgesehen. Diese war mit der ursprünglich geplanten Eingangsarie überhaupt nicht zufrieden. In ihrer Vorstellung musste die Musik „spanischer“ und „zigeunerhafter“ sein. Nach zwölf weiteren musikalischen Vorschlägen Bizets entsprach „El Arreglito“ schließlich den Vorstellungen der anspruchsvollen Diva. Einige Wochen nach der Uraufführung starb Bizet, der als Plagiat die fremde Habanera zu einer der berühmtesten Arien in der Opern-Musik gemacht hatte. Übrigens, auch „La Paloma“ lebt unverändert weiter und die ausdrucksstarke Melodie rührt, gleichsam als „Ur-Schnulze“, bis heute die Herzen aller Generationen und Kulturen.

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