Stefan Zweigs Welt von gestern

Stefan Zweig ca, 1912
(Wikipedia.org, gemeinfrei)

Selten gelang es einem Buch mich so zu fesseln, dass ich jede freie Minute nach ihm griff um weiterzulesen. „Die Welt von Gestern“ von Stefan Zweig ist so ein Schmöker. „Erinnerungen eines Europäers“ lautet sein Untertitel und mir schien es tatsächlich als sei die europäische Welt vor den beiden Weltkriegen nicht nur eine historische Begebenheit sondern auch eine wunderschöne Utopie, ja eine Blaupause für unsere heutige Zeit, gewesen. Das Schengener Abkommen brauchte man damals nicht: jeder und jede konnte innerhalb des Kontinents ohne Papiere hinreisen wohin er oder sie wollte. Stefan Zweig tat es und knüpfte an vielen Orten Beziehungen über die er dann informativ und spannend berichtete. Der geschichtliche Rahmen, der in letzter Konsequenz zum Verlust seiner österreichischen Heimat, zur Emigration und zum Selbstmord führte, ist, obwohl er sehr gut bekannt ist, zu tiefst aufwühlend und macht das Buch zu einem erschütternden Dokument der jüngeren Geschichte. Wie bei allen Autobiografien muss man aber auch Zweigs subjektive Sichtweise erkennen und entsprechend bewerten. Das Authentischste an dem Buch sind sicher die Begegnungen Stefan Zweigs mit vielen Größen seiner Zeit und deren detaillierte Schilderungen.

So erfahren wir Zweigs Empfindungen während  seines Besuchs in Auguste Rodins Atelier: „Große Augenblicke sind immer jenseits der Zeit. Rodin war so vertieft, so versunken in seine Arbeit, dass kein Donner ihn erweckt hätte. Immer härter, fast zorniger wurden seine Bewegungen, eine Art Wildheit oder Trunkenheit war über ihn gekommen, er arbeitete rascher und rascher…“ Es waren Momente höchster Konzentration des Künstlers, die dann auch plötzlich wieder nachließen. Zweig hatte erkannt, dass „die Zusammenfassung aller Kräfte, aller Sinne, das Außer-sich-Sein,  das Außer-der Welt-Sein“ das Geheimnis aller Kunst sei.

Mit Richard Strauss verband ihn ein gemeinsames Projekt: er hatte das Libretto zur „Schweigsamen Frau“ geschrieben. Die Uraufführung des Werkes geriet allerdings zu einer Nazi-Farce, denn da Zweig Jude war, musste Adolf Hitler  höchstpersönlich  seine Zustimmung zur Aufführung geben, was er unkonsequenterweise auch tat. Obwohl sich Strauss gelegentlich den Nazi-Machthabern anbiederte, war er kein Antisemit und blieb Zweig bis zu dessen Emigration verbunden. Den physischen Ausdruck von Richard Strauss beschrieb er folgendermaßen: „In solchen, seltenen Sekunden, wo sein Auge auffunkelt, spürt man, dass etwas Dämonisches in diesem merkwürdigen Menschen tief verborgen liegt, der zuerst durch das Pünktliche, das Methodische, das Solide, das Handwerkliche, das scheinbar Nervenlose seiner Arbeitsweise einen ein wenig misstrauisch macht, wie ja auch sein Gesicht zuerst eher banal wirkt mit seinen dicken kindlichen Wangen, der etwas gewöhnlichen Rundlichkeit der Züge und der nur zögernd zurückgewölbten Stirn. Aber ein Blick in seine Augen, diese hellen, blauen, stark strahlenden Augen, und sofort spürt man irgendeine besondere magische Kraft hinter dieser bürgerlichen Maske.“

Ein guter Freund Zweigs war der liberale Politiker und damalige Außenminister Walter Rathenau, über den er u.a. schrieb: „Aber unverheiratet, kinderlos und im Grunde tief vereinsamt, wie er war, meinte er die Gefahr nicht scheuen zu müssen; auch ich hatte nicht den Mut, ihn zu persönlicher Vorsicht zu mahnen.“ Am Morgen des 24. Juni 1922 erfüllte sich das Schicksal des Freundes mit dem tödlichen Attentat auf den Wagen von Walter Rathenau. Für Stefan Zweig und für ganz Deutschland war es das Fanal des persönlichen und nationalen Untergangs zwei Jahrzehnte später.

Unter den vielen Schriftstellern mit denen Stefan Zweig verkehrte wären aus meiner Sicht wenigstens noch Rainer Maria Rilke und Hugo von Hoffmannsthal  zu erwähnen. Die liebevollen Beschreibungen ihrer Personenen zeugen von Zweigs tiefer Zuneigung zu diesen beiden Kollegen. Einen schlagenden Beweis für das eigene schriftstellerische Können lieferte Zweig mit der Schilderung eines Besuches an Tolstois Grab in Russland, die ich hier wegen ihrer starken Stimmung, auszugsweise wiedergeben möchte: „Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort, eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor dem Grab, Leo Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schösslinge eingesetzt. Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit… Wind rauscht wie Gottes Wort über das Grab des Namenlosen, sonst keine Stimme, man könnte daran vorbeigehen, ohne mehr zu wissen, als dass hier irgendeiner begraben liegt, irgendein russischer Mensch in der russischen Erde. Nicht Napoleons Krypta unter dem Marmorbogen des Invalidendoms, nicht Goethes Sarg in der Fürstengruft, nicht jene Grabmäler in der Westminsterabtei erschüttern durch ihren Anblick so sehr wie dies herrlich schweigende, rührend namenlose Grab irgendwo im Walde, nur vom Wind umflüstert und selbst ohne Botschaft und Wort.“ – Mehr Worte sind nicht nötig, aber jedes einzelne des gesamten Buches ist äußerst lesenswert!

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