Große Individualität: spanische Architekturgeschichte

Santiago Calatrava: futuristische Stadtarchitektur in Valencia

Die Architektur ist immer Ausdruck der Gesellschaft in der sie entstanden ist und drückt daneben auch die Persönlichkeit des jeweiligen Erbauers aus. In der Architektur kann man mühelos die Stärken oder Schwächen ihrer Entstehungszeit wiederfinden. Als Beispiel für diese Verflechtungen von Kunst, Architektur und Zeitgeist möchte ich die europäische Spätgotik nennen. Das 12. Und 13. Jahrhundert, die Zeit der gotischen Hochkultur, war in ganz Europa geprägt von wirtschaftlicher Prosperität, aber dann, im 14. Jahrhundert, begannen, ähnlich wie heute, die Naturkräfte den Wohlstand zu bedrohen. Eine Klimaveränderung mit zunehmender Kälte und ausgiebigen Regenfällen, zerstörte die Ernten und Getreide wurde Mangelware. Als Konsequenz davon gab es schwere Hungersnöte. 1348 begann sich die Beulenpest in den Ländern des Kontinents auszubreiten. Der Schrecken des Schwarzen Todes und die panische Angst davor waren allgegenwärtig und verfinsterten die Gemüter der Menschen. Man hatte Sehnsucht nach Erhabenheit, Licht und Farbe. Die Architektur der gewaltigen, in den Himmel strebenden, gotischen Kathedralen verkörperten diese Wünsche. Da es sich bei der erwähnten Geisteshaltung der Bevölkerung über ein grenzüberschreitendes Phänomen handelte, adaptierte man die Kunst und den Baustil an die jeweilige nationale Ästhetik. Von Frankreich breitete sich der gotische Baustil über ganz Europa aus.

Jenseits der Pyrenäen wurde im Mittelalter der Norden der Iberischen Halbinsel zur Heimat der spanischen Gotik. Die wundervoll lichte Kathedrale Santa María de Regla in León am Jakobsweg mit ihren 125 Glasfenstern und der bunten Rosette über dem Westportal stammen teilweise noch aus dem 13. Jahrhundert. Sie sind für mich farbenfroher Ausdruck des positiven Geistes, der dem Schrecken des Schwarzen Todes getrotzt hat. Entsprechend den politischen Verhältnissen breitete sich die Gotik nur in den nicht von den Muslimen eroberten Landstrichen aus; im Rest vom einstigen al-Andalus, wie sich das spanische Maurenreich nannte, herrschte dagegen der Mudéjarstil vor und wurde zum beeindruckenden Merkmal der Architektur auf iberischem Boden. Der Begriff Mudéjar leitet sich vom arabischen „mudaggan“ ab, was so viel wie „die bleiben durften“ bedeutet und jene Mauren bezeichnet, die in von den Christen eroberten Landstrichen wohnten und deren Religion, Kultur und Gebräuche toleriert wurden. Dieses Privileg wurde denjenigen gewährt, die gebildet waren bzw. ein gefragtes Handwerk beherrschten, also auch den maurischen Baumeistern. Das fortgesetzte Zusammenleben von Juden, Mauren und Christen brachte schließlich diesen Baustil hervor, wobei es sich im Wesentlichen um eine Neuauslegung der Baustile Nordeuropas unter dem Einfluss moslemischer Architektur handelte, wie sie in Granadas Alhambra perfektioniert war. Charakteristisches Bauelement waren die Ziegel, die zu dem irreführenden Begriff der „Backstein-Romanik“ für die Mudéjar-Kirchen führte. Ihre Türme hatten einen schlichten, quadratischem Grundriss und waren mit glasierten Keramikarbeiten und rotem Backstein sowie romanischen und gotischen Formelementen verziert.

Der Mudéjar-Stil hielt sich in Spanien bis ins frühe 17. Jahrhundert und wurde zu einem typisch  iberischen Architekturelement. Im 19. Jahrhundert, noch unter dem Einfluss der Romantik, wird der alte Stil wiederentdeckt und bestimmt unter dem Begriff „Neomudéjar“ eine sich neu etablierende Architektur-Periode. Insbesondere öffentliche Gebäude wie Stierkampfarenen, Verwaltungsbauten und Bahnhöfe werden nach Mudéjar-Art gestaltet. Im Grunde lebt diese Art zu bauen als „Postmudéjar“ bis zum heutigen Tage fort, wie viele moderne Zweckbauten, z.B. Hotels und Ferienanlagen in Touristenorten zeigen. Man spricht gelegentlich auch vom „spanischen Dekorationsstil“, der auch jenseits des Atlantik in der Spanisch-sprachigen Neuen Welt Anklang findet und vielfach übernommen wird.

 Unter den großen, belangvollen Architekten Spaniens ragen aus meiner Sicht vier Namen hervor: Juan de Herrera (1533 – 1597), José Benito de Churriguera (1665 –  1725), Antoni Gaudí (1852 – 1926) und Santiago Calatrava Valls (geb. 1951). Herrera  ist der wichtigste Architekt der spanischen Renaissance. Der Escorial-Palast Phillipps des Zweiten und die Neugestaltung des Madrider Plaza Mayor haben den Herrera-Stil geprägt, der im ganzen Land vielfach kopiert wurde. Gemeinsam mit seinen zwei Brüdern war Churriguera der Protagonist des spanischen Barock. Der weitläufige Plaza Mayor in Salamanca ist der schönste Ausdruck des spanischen Barock-Stils , der als Churriguerrismus in der Architekturgeschichte des Landes einen bedeutenden Platz einnimmt. Einer der eigenwilligsten und einflussreichsten Architekten der Welt war ohne Zweifel Gaudi. Sein Baustil bezeichnete man als Modernismus, was eine katalanische Abwandlung des Jugendstils war.  Gaudi wirkte vornehmlich in Barcelona, dort stehen einige seiner größten Werke wie die Casa Batlló, die Casa Milà, der Palau de la Musica Catalana und das neue Wahrzeichen der Stadt, die Kirche Sagrada Familia. Die geschwungenen, dekorativen Elemente seiner Fassaden und Exterieurs sind, im Sinne von Friedrich Wilhelm Schelling (1775 – 1854), tatsächlich zu Stein erstarrte Musik und ziehen jedes Jahr Millionen von Touristen – unter die ich mich selbst so oft ich kann einreihe – die dann staunend die tönende, steinerne Gestaltung Gaudis auf sich wirken lassen. Der aus Valencia stammente Calatrava ist ein echter architektonischer Kosmopolit der Moderne. Seine futuristischen Entwürfe werden in allen Ländern der Welt realisiert und finden ein großes Echo unter den zeitgenössischen Architekten. Zusammenfassend scheint es mir, als habe die spanische Seele eine ausgesprochene Vorliebe für die Baukunst und damit einen wichtigen Beitrag zur europäischen Kultur geleistet.

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