
Die Orgel ist der Inbegriff der Kirchenmusik (Hier: in der Cathedrale St. Sauveur in Aix-en-Provence)
Ein von Musikern immer wieder genanntes Zitat lautet „Musik ist meine Religion“. So nannte sich einst auch der Titel der Erinnerungen von Richard Burmeister (1860-1944), einem Schüler und Bewunderer von Franz Liszt. Er muss selbst ein hervorragender Pianist und gelegentlich auch Komponist gewesen sein. Völlig unabhängig von Burmeisters Biographie-Titel haben Musik und Religion schon seit Urzeiten sehr viele Gemeinsamkeiten und wechselseitige Beziehungen. Immer wieder trifft man auf Menschen, die von religiösen Gefühlen beim Anhören von Musik berichten. Schon als Kleinkinder hören wir in vielen Schlafliedern von Gott, der die Sternlein zählet oder wenn er will, uns am Morgen wieder weckt. Die Melodien sind so einfach und harmonisch, dass sie sich in die Kinderseele einprägen und Abend für Abend Ruhe und Geborgenheit vermitteln. Später, wenn der eigene Geist erwacht ist, wird vermutlich eine der ersten Fragen sein „Was oder wer ist eigentlich Gott?“ Die abendlich-musikalische Zeremonie des Zubettgehen ist somit der erste Gottesdienst im Leben eines christlich erzogenen Menschen. Später, in der Kirchenbank trifft er die Musik wieder und sie hat zunächst die gleiche Wirkung wie damals: Sie schafft ein Gefühl der Sicherheit und des Friedens und tut der Seele einfach gut.
Dieses „Der-Seele-Guttun“ haben Komponisten in der Vergangenheit aufgegriffen und ihrer „Kirchenmusik“ ein spirituelles Fundament gegeben. Dabei werden menschliche Fragen und Erfahrungen emotional angesprochen, die jenseits der unmittelbaren Wirklichkeit des Kirchgängers liegen, also dem Gottesbegriff nahekommen. Wir reden dann auch von Transzendenz, d. h. einer „Realität“, die weit außerhalb der eigenen, persönlichen Erlebniswelt liegt. Diese theistische Definition der Transzendenz könnte man mühelos säkularisieren und als eine exakte Beschreibung der Musik ansehen. Natürlich hat die Musik eine lange religiöse Tradition und es scheint, als fördere sie tatsächlich das Bewusstsein für den Glauben und die Notwendigkeit des Gebetes. Musik spielt in der Liturgie in vielen Religionen eine große Rolle und in unserem christlich-jüdischen Kulturkreis haben sich Komponisten durch religiöse Themen zu großartiger Musik inspirieren lassen. Man denke an Bach und die vielen anderen Komponisten des Barock, an die Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven und an die Romantiker wie Schubert, Mendelssohn, Brahms und Verdi, die alle wunderbare Messen, Requiems, Oratorien und Lieder geschaffen haben. Die Musik hat offenbar eine spirituelle Kraft, durch die man mit seinem Gott in Verbindung treten kann. Dies gilt für klassische und Pop-Musik vermutlich gleichermaßen.
Das große, ungelöste Rätsel des Wesens der Musik erinnert mich tatsächlich an das ebenfalls ungelöste Geheimnis der Gottheit. Beides entzieht sich ja weitgehend der Beschreibung durch die Sprache. Der Mensch kommt beiden Mysterien, der Musik und Gott, nur durch persönliche Erfahrung näher. So können beispielsweise Bibeltexte für manche Menschen eine Offenbarung darstellen, während sie für andere ein historischer Prosatext bleiben. Wie einen musikalischen Instinkt gibt es vielleicht auch einen religiösen Instinkt. Die Religion ist, genau wie die Musik, aufgrund ihrer jeweiligen intellektuellen Unverständlichkeit auf Metaphern angewiesen, um ihr Wesen anschaulich zu machen. Wir brauchen Vergleiche oder Bilder, um eine Vorstellung zu bekommen, was und wer Gott ist und wie er wirkt. „Gott ist wie Feuer“ laut der Titel eines Buches von Alexandra Pick, was eine sehr anschauliche Metapher ist. In der Definition von musikalischen Begriffen benötigen wir ebenfalls Metaphern, z. B.: „Eine Fuge gleicht einem, Rosenblatt“ ist eine gängige Beschreibung dieser speziellen Musikform. Darf man aber so weit gehen und behaupten Musik sei gleichzusetzen mit Religion? Obwohl sehr viele Ähnlichkeiten zwischen der Macht der Musik und der Macht der Religion über die Menschen bestehen, schreibt die Musik, im Gegensatz zur Religion, keinen ethischen Verhaltenskodex vor und kann deshalb auch niemanden zur Rechenschaft ziehen, bleibt also moralisch unverbindlich. Das Versprechen, dem jeweiligen Verehrer das Paradies zu öffnen, geben Religion und Musik gleichermaßen ab, wobei die Musik dieses hier auf Erden geistig oder emotional tatsächlich einlösen kann, während man das göttliche Paradies erst nach dem Tode, dann aber regelrecht physisch, genießen darf. Man kann selbstverständlich die Musik auch als Vorstufe oder Eintrittskarte zum göttlichen Paradies sehen!
Die Behauptung, Musik sei eine Religion, entspricht sicher nicht den Ansprüchen wirklich gläubiger Menschen. Musik ist nicht schöpferisch, sie ist schließlich selbst eine mittelbare Schöpfung des Menschen. Demgegenüber ist der jeweils angebetete Gott immer außerordentlich kreativ, er hat die Welt, den Menschen und mit ihm zusammen die Musik erschaffen. Außerdem hat er den unterschiedlichsten Gemeinschaften Ordnungsregeln gegeben, die sie zusammenhalten. Die Musik ist dagegen ein sehr effektives Vehikel, diese göttlichen, respektive spirituellen Zusammenhänge zu erkennen und bewusst zu machen.
Bleiben Sie stets neugierig… Und genussvoll durstig!