Besuch auf einer der „Fortunatae Insulae“

Das Idol von Tara, ein archäologisches Fundstück aus Gran Canaria (Foto: Museo Canario)

Schon als Kind habe ich von den „Glücklichen Inseln“ gehört, die irgendwo im Ozean, weit ab von unserem Land, liegen und auf denen paradiesische Zustände herrschen sollten. In der Jugend habe ich dann von meinen Lehrern erfahren, dass irgendwo im äußersten Westen das mythische Paradies in Gestalt der Gärten der Hesperiden liegt. Auch sie waren auf einer Insel, die man genauso wenig kannte wie das sagenhafte, im Meer versunkene Atlantis. Viele Jahrzehnte später erfuhr ich bei einem Besuch des Museo Canario in Las Palmas de Gran Canaria, dass die Insel Gran Canaria vermutlich die Heimat der Hesperiden gewesen war. Natürlich ist auch das eine reine Spekulation, die aber immerhin von archäologischen Funden begleitet wird, die dies nicht explizit ausschließen. Im genannten Museum kann man diese historischen Objekte betrachten und gleichzeitig etwas über die Geschichte der Insel erfahren. Die ersten Menschen, die die Insel bevölkerten, waren die sog. „Antiguos Canarios“ (Altkanarier), deren Spuren man bis ins 10. Jahrhundert v. Chr. verfolgen kann. Sie hatten nichts gemein mit der ethnischen Gruppe der Guanchen, die auf Teneriffa ansässig waren und dort eine eigene, unabhängige Kultur entwickelten. Die Altkanarier stammten möglicherweise von phönizischen Seefahrern ab. Die Sprache der Altkanarier hat für Linguisten offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Sprache der Berber in Nordafrika, sodass nicht auszuschließen ist, dass schon frühzeitig auch Einwanderer aus Afrika nach Gran Canaria kamen. All diese Immigranten fanden auf der Insel fruchtbaren Boden mit ausreichend Zugang zu Wasser vor und konnten so eine landwirtschaftliche Kultur entwickeln, die später von den Römern übernommen und in das Handelsnetz um das „Mare Nostrum“, das Mittelmeer, integriert wurde. Eine Spezialität und gleichzeitig ein Exportschlager Gran Canarias in der lateinischen Zeit war wohl das auf der Insel gefertigte Garum für die römische Küche. Die Römer prägten für die kanarische Inselgruppe den Begriff „Fortunatae insulae“ (Glückliche Inseln).

Im Rahmen der spanischen Eroberung der Kanaren in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fiel Gran Canaria nach schweren Kämpfen 1483 an die Krone von Kastilien. Ein halbes Jahrhundert später war die Integration der Kanarischen Inseln in das Königreich Spanien vollendet: Sie wurden zusammen eine der 50 gleichberechtigten Provinzen auf der Iberischen Halbinsel. Die Assimilation der Altkanaren in die Kultur Spaniens war mit dem Ende des 16. Jahrhunderts abgeschlossen, sodass sie als Konsequenz keine eigene ethnische Gruppe mehr darstellten, sie waren praktisch ausgerottet. Diese Tatsache hat in der Gegenwart unter den Vertretern des „antiimperialistischen Postkolonialismus“ zu schlechtem Gewissen und einer erheblichen Begriffsverwirrung geführt. Jahrhunderte waren die Altkanarier in Spanien die sog. „Aborigines“, was so viel wie „Eingeborene“ bedeutet. Da dies als neokoloniale, abwertende Bezeichnung angesehen wurde, nannte man sie später „Prehispánicos“, also „Vorspanier“, was aber ebenfalls fehlerhaft war, da es damals keine gesamtspanische Kultur gab, sondern nur eine historisch gewachsene Vielfalt davon. Jetzt hat man sich endlich geeinigt: die Altkanaren werden als die „indigenes“, die Indigenen – die Ureinwohner – definiert.

Unabhängig von den möglicherweise auch wichtigen semantischen Aspekten sind die Lebensbedingungen und -formen der Ureinwohner Gran Canarias von großem Interesse und das Museo Canario gibt da eine Menge Auskünfte. Sie haben teilweise in den wohltemperierten Höhlen der schwarzen Vulkanberge gewohnt und deren Wände mit äußerst farbigen und kunstvollen geometrischen Mustern dekoriert. Getöpfertes und ebenfalls bemaltes Steingut hat Formen, die uns überhaupt nicht fremd erscheinen. Handwerkszeug aus Lehm gebrannt oder aus den Knochen erlegter Tiere gefertigt, erinnert daran, dass die Spezies Mensch wohl über einen Urinstinkt verfügt, der unser Tun und Handeln, über unterschiedliche Ethnien und geografische Gegebenheiten hinweg, steuert. Auch die Ureinwohner von Gran Canaria haben Abbildungen von sich selbst oder ihren Göttern geschaffen, die für unsere Augen doch sehr speziell und eigenartig sind. Die berühmteste davon ist das „Idolo de Tara“, eine ocker gefärbte Figur aus gebranntem Lehm, vermutlich weiblichen Geschlechts oder ein Hermaphrodit. Sie scheint sich im Lotussitz platziert zu haben. Der Unterleib, einschließlich der Oberschenkel, sind gegenüber dem kleinen zierlichen Kopf, dessen Schädeldecke abgeschnitten ist, deutlich über-proportioniert. Ähnlich verhält es sich mit den Oberarmen mit ihren ausgeprägten Bizeps-Muskeln, die Unterarme sind abgebrochen. Die Figur stammt aus dem Neolithikum und vielleicht handelt es sich um eine(n) Fruchtbarkeits-Göttin oder -Gott. Es wurden mehrere dieser Figuren in verschiedenen Größen auf Gran Canaria gefunden, sie mögen den Altkanariern als Amulette oder rituelle Symbole bei Zeremonien wie Hochzeiten, Geburten oder Begräbnissen gedient haben.

Ein Besuch von Gran Canaria im Januar, wie ich es im Jahr 2025 getan habe, erklärt sofort, warum man diesen Ort „glücklich“ nannte. Frühlingsluft und Sonnenstrahlen streicheln die Haut, die noch bei der Abreise in Wollpullover und Anorak gehüllt war. Sträucher von Christsternen in verschiedenen Farben, im Winde knisternde Palmen und in ihnen munter singende Kanarienvögel verzaubern die Sinne. Der Gang durch das Museo Canario hat mir auch sehr deutlich gemacht, dass ich mich auf wahrhaft historischem Boden befinde.

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