Mondgedanken beim Wein

Tagesmond in der andalusischen Sierra de la Contraviesa (ein „Milchflecken auf der glatten Stirn des Himmels“ José Ortega y Gasset)

Die Abende an denen die aufgehende Mondsichel vor dem Hintergrund des rotgoldenen Firmaments steht, gehören zu den schönsten des Herbstes. Die langsam aufziehende Dunkelheit lässt die schlanke Sichel immer deutlicher werden und es braucht nur wenig Phantasie zu verstehen warum in den Geschichten der Scheherazade in „Tausend und eine Nacht“ die Schönheit eines Mädchens immer wieder mit der Sichel des aufgehenden Mondes verglichen wird. Es ist ein unbeschreiblich erotisches Symbol. Mit schlanker Taille, grazil, scharf konturiert und voll innerer Energie zeigt sich der Mond in dieser Phase am Abendhimmel. In ihm schlummert der Wille zur Expansion. Wie die junge Frau nach den Liebesnächten durch ihre wachsende Frucht an Leibesumfang zunimmt, wächst der Himmelskörper zum Vollmond. Diese voraussehbare Entwicklung macht den Reiz des aufgehenden Mondes aus. Er ist wie das Zeichen der Jugend, die allzu schnell vorbei geht.

Wie romantisch diese Auffassung auch sein mag, sie bleibt auch eine schöne Metapher des zyklischen Geschehens in der Natur. Wir alle unterliegen bekanntlich diesem Gesetz und sollten uns ihm in aller Bescheidenheit und Demut unterwerfen. Alles was lebt auf dieser Erde endet im Tod, dies ist seine Bestimmung, sein Ziel. Die Mondphasen zeigen uns auch, dass es Zusammenhänge im Spiel der Naturkräfte gibt, die wir kaum verstehen und über die wir nur staunen können. So gewaltige Phänomene wie Ebbe und Flut werden aus beinahe unendlicher Ferne vom Mond gesteuert. Auch die Medizin, und sei es „nur“ die sogenannte Volksmedizin, kennt die Einflüsse der Mondphasen auf das Befinden des menschlichen Körpers. Auch im Weinbau spielen sie nach Ansicht mancher Winzer eine entscheidende Rolle. Der sog. „Biodynamische Weinbau“, der sich an der anthroposophischen Lehre von Rudolf Steiner (1861 -1925) orientiert, richtet sich weitgehend nach dem Mondkalender. In manchen Weinbauregionen waren sogar die Weinlesetermine auf die Perioden des abnehmenden Mondes gesetzlich festgelegt.

Immer hat mich der Mond als Inbegriff allen Romantischen fasziniert und ich muss dabei an folgende Zeilen meines Lieblings-Intellektuellen José Ortega y Gasset (1883 – 1955) denken, der von einem etwas anderen Erscheinungsbild des Mondes schwärmt: „Über den rosa und purpurn getönten Häusern von Sigüenza steht klarer Morgenschein. Ein paar Spuren von Mond sind noch am Himmel, die Sonne aber wird sie bald aufgesogen haben. Dies Sterben des Mondes am hellen Tag ist ein ungemein romantisches Schauspiel. Nie sieht das milde, nachdenkliche Gestirn zärtlicher aus. Es ist ein Milchflecken auf der glatten Stirn des Himmels, eine von den weißen Erdbeeren, wie manche Mädchen sie an ihrer Brust auf die Welt mitbringen.” (Kastilische Landschaften, 1916).

Ein großer Teil der Erotik des aufgehenden Mondes liegt vielleicht in der Tatsache begründet, dass der Himmel in der Mythologie vieler Völker ein männliches Prinzip darstellt. Er wölbt sich über die Erde, die die Mutter verkörpert, wie zum Beischlaf mit ihr. Dem gegenüber tritt der junge Mond, der ja in fast allen europäischen Kulturen, außer der deutschen, als weiblich identifiziert wird, in ein enormes Spannungsverhältnis mit dem Himmel. Mitten in der männlichen Domäne bewegt sich verführerisch die zierliche, strahlende Weiblichkeit voll Grazie und behauptet sich in der patriarchalischen Umgebung des Firmamentes, ja dominiert sie sogar gelegentlich. Joseph von Eichendorff (1788 – 1857) hat diese Zusammenhänge in wunderbare  Poesie umgesetzt:

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Die erste Strophe ist wie die Erinnerung an alte Mythen, in denen der Mensch durch eine Vereinigung von Himmel und Erde entstanden ist. Es war die Liebe, die dabei Pate stand, vor der Vereinigung hat der Himmel seine Geliebte geküsst und diese stand im blütengeschmückten Brautkleid und träumte von der bevorstehenden Liebesnacht. In der zweiten Strophe ist die Rede von dem Trauzeugen, der Natur. Sie ist sanft und leise, der Wind durchweht sie wie ein göttlicher Atem, Musik durchzieht die sternklare Nacht mit Sphärenklängen. Im letzten Vers betritt schließlich der Mensch die Szene. Im Angesicht der friedlichen Natur entfaltet sich sein Innerstes und er findet seine Heimat in sich selbst. Drei Verse umspannen den Bogen vom Beginn der Menschheit zur ihrer höchsten Vollendung, der Selbstfindung des Individuums. Nur schöne Mondgedanken?

P. S.: Ein interessantes, aber wohl eher esoterisches  Forschungsprojekt für die Zukunft könnte sein, herauszufinden ob das Erlebnis des Weingenusses auch  Mondphasen-spezifische Unterschiede zeigt.

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