An einigen deutschen Universitäten gibt es ein Fach namens „Volkskunde“. Es fällt meist unter den Oberbegriff „empirische Kulturwissenschaft“ und darin wird auch über den Volksglauben gelehrt. Dieser ist das, was landläufig auch Aberglaube genannt wird. Dabei muß man wissen, daß das was heute als Aberglaube abgestempelt wird, vermutlich einmal gängige Wissenschaft war. Aderlass, Blutegel und Schröpfköpfe sind aus der naturwissenschaftlichen Medizin völlig verschwunden und in den Bereich der „Paramedizin“, d.h. des mystischen Aberglaubens gerückt. Dabei war die Therapie des Blutentfernens bei einem Kranken jahrhundertelang anerkannte „Schulmedizin“. Auch bestimmte Sichtweisen der Wettervoraussage gehören in diesen Bereich. Franz Strunz hat in seiner bekannten Schrift von 1909 „Beiträge und Skizzen zur Geschichte der Naturwissenschaften“ geschrieben: „aller Aberglaube ist alte Wissenschaft, alle Wissenschaft neuer Aberglaube“ und „was heute Aberglaube ist, war einst Wissenschaft“.
So sind auch viele Erkenntnisse zum Thema Wein fest im Volksglauben verankert und waren wohl einst, trotz aller Kuriosität bei heutiger Betrachtung völlig ernst gemeint. Aus diesen volkstümlichen Weisheiten lassen sich durchaus auch soziologische Einsichten ableiten.
Einer der interessantesten Aspekte des Aberglaubens beim Thema Wein ist die enorme Kraft, ja sogar Zauberkraft, die das Getränk verleihen soll. Der Legende nach war Wein der Lieblingstrunk des waffenstarken Odins, oder zu deutsch Wotans. Odins Name war abgeleitet von der nordischen Bezeichnung für „Wut“ oder „Erregung“ und er war der Gott der Extase und des Krieges, also einer Gottheit, die mit dem Dionysos der Griechen durchaus Gemeindamkeiten hatte. Dies macht seine Vorliebe für den Wein, ein im Norden teures und schwer verfügbares Getränk, verständlich. Der Wein wurde durch Odins Vorliebe in göttliche Sphären verlagert. Von einer sehr kuriosen Anwendung berichtet eine alte mecklenburgische Quelle: „Auf welche Art der Mensch große Stärke erreichen kann: Setze guten, klaren, roten Wein in einen Ameisenhaufen, lasse ihn ein ganzes Jahr darin stehen an einem Donnerstag im Glas wohl verwahrt; hernach nimm es an dem darauffolgenden Freitag des verflossenen Jahres wieder heraus und trink selbigen Wein , so wirst du Riesenstärke gewinnen und unerhörte Wunder tun.“ (zitiert nach Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens). Die Vorschrift besagt ausdrücklich, daß es guter, klarer, roter Wein sein müsse, also Qualitätskriterien, die auch heute noch gelten. Ameisen sind übrigens ebenfalls mit dem Zauber belegt Kraft zu verleihen.
Im Volksglaube soll Wein Blut erzeugen, also blutbildend wirken. Die Assoziation von Wein mit Blut geht auch zurück auf Dionysos. Bei den Festen zu seinen Ehren waren die Trinkgelage nicht nur Besäufnis sondern ein wirkliches Sakrament, durch das die Teilnehmer das Blut des Gottes zu sich nahmen und so seiner Seele teilhaftig wurden. Wein tritt im Kult häufig an die Stelle des Blutes, des Lebenssaftes. Das Blut wurde beim schliessen der Blutsbrüderschaft oft durch Wein ersetzt und wahrscheinlich ist das deutsche „Brüderschaftstrinken“ eine Reminiszenz dieses Volksglaubens. Die Kirche hat beim Abendmahl den gleichen Glauben aufgegriffen, hierbei stellt der Wein das Blut Christi dar. Wein spielte überall in Europa auch bei Fruchtbarkeitsriten eine Rolle. Älteren Jungfern goß man bei einem Umtrunk im Wirtshaus Wein in den Schoß, was als eine Art Fruchtbarkeitssegen aufgefasst wurde. Aber auch das Besprengen mit Wein von Äckern und Getreidefeldern hat einen ähnlichen Hintergrund. Daß Wein bei unzähligen Hochzeitsriten in vielen Gegenden große Bedeutung haben kann, basiert vermutlich auf seiner bereits diskutierten aphrodischen Wirkung, bzw. als deren Symbol. Entsprechend wird meist der gemeinsame Trank von Braut und Bräutigam zelebriert.
Wie sehr der Wein auf Gedeih und Verderb an den Menschen gebunden war zeigen einige aberläubische Vorstellungen wie der Wein beim Tode eines Menschen reagiert. In manchen Regionen glaubte man, daß man bei einem Sterbefall im Hause das Weinfass im Keller beklopfen oder rütteln müsse um ein sofortiges Verderben seines Inhalts zu vermeiden. Wein als Totenopfer ist ebenso weit verbreitet. Vermutlich gehen diese Riten bis auf die alten Ägypter zurück, wo man in den Königsgräbern immer eine Karaffe Wein fand. Es gab die Vorstellung, daß der Tote auch im Totenreich gut versorgt sein sollte. In Europa gab es vielerorts die Sitte entweder in das ausgehobene Grab Wein zu giessen oder das fertige Grab mit Wein zu besprenkeln. Aus Slovenien ist bekannt, daß man noch um 1820 einem Toten einen Laib Brot und eine Flasche Wein unter den Kopf legte. All dies zeigt die hohe Wertschätzung, die man dem Wein gab. Selbstverständlich konnten Hexen auch den Wein verderben. Die Akten der Hexenprozesse sind voll von ihren vermeintlichen Untaten, sie reichen vom Erzeugen von Nebel um die Weinberge zu schädigen, bis zur zauberischen Art Wein zu rauben. Wein war bei Hexen ebenfalls sehr begehrt, denn er galt ja als Trank des Lebens. Hexen hatten auch ihre besondere Art Wein selbst zu machen, so z.B. aus Totenköpfen. Bei einem Hexenprozess im Jahre 1673 sagte eine Hexe aus, daß der Wein beim Hexenmahl wie Rosenwasser schmecke. Nicht zu vergessen ist natürlich, daß Wein öfter als Grundlage sogenannter Zaubertränke diente, die dann noch die abstrusesten Beimischungen enthielten. Weit verbreitet waren auch die s.g. Liebesaugurien, d.h. die Erkundungen des Schicksals einer Person in der Liebe. Ein ganz typischer Test zur Ergründung des Wohlstandes eines Liebhabers und künftigen Gatten war, daß man ihm drei Gläser gefüllt mit Wein, Bier oder Wasser vorsetzte; ergriff er zuerst den Wein war er reich, ergriff er das Bier war er nur mittelmäßig betucht, das Wasser signalisierte Armut. Der Hintergrund dieses Aberglaubens ist aus soziologischer Sicht sehr leicht zu verstehen.
Ein ganz anderer Aspekt sind die vielen Umstände und Zeichen, die die Quantität und Qualität des Weines im kommenden Jahr voraussagen sollen. Meist ist es die Witterung an einem bestimmten Tag des Jahres, die zu solchen Prognosen herangezogen wird. Von besodnerer Bedeutung ist dabei der 25. Mai, der St. Urbanstag. An ihm wird Papst Urban I., der im 3. Jahrhundert lebte, gefeiert. Er ist der Patron des Weines und der Winzer. Er wird als Papst mit Weintraube in der Hand oder auf einem Buch dargestellt. Zu dieser Ehre ist er vermutlich dadurch gekommen, daß sein Festtag direkt nach den „Eismännern“ lag und den Beginn der wirklich warmen Jahreszeit signalisierte, mit der ja auch die Weinblüte einsetzte. Andere und wesentlich schwerer zu interpretierende Riten sagen z.B., daß der Wein im nächsten Jahr gut gerät, wenn in der Christnacht ein Schoppen gärenden Weines überläuft. Auch Kobolde zeigen gelegentlich an, wie die nächste Weinlese wird. So hört man beispielsweise in bestimmten Teilen Schwabens in der Christnacht um 12 Uhr ein Klopfen an den Butten der Kelter wenn es ein gutes Weinjahr gibt.
Ein letzter Aspekt bei der Betrachtung des Weines im Zusammenhang mit dem Volksglauben soll dem Heilzauber und der Volksmedizin gewidmet sein. Grundsätzlich scheint es so, daß an bestimmten Heiligentagen geweihter Wein eigentlich das sicherste Mittel gegen eine Vielzahl von Krankheiten ist. Der direkte Kontakt kranker Ohren und Augen mit Meßwein übt eine heilende Wirkung aus. Auch der Kreuzwein, das ist Wein in den ein Kreuz getaucht wurde, hat heilende Wirkung bei vielen krankhaften Zuständen. Gegen das Fieber empfielt ein Rezept aus der französischen Schweiz: „Man füllt ein neues Glas mit dem besten Rotwein, bevor die Sonne aufgeht; dann stellt man es unter das Dach und unter einem Dachziegel; die Sonne darf das Glas nicht bescheinen; vor Sonnenaufgang gibt man dem Kranken den Wein; dann muß man das Glas zerbrechen“. Italienischen Glühwein gegen Infuenza gibt es abgewandelt ja heute noch vorallem als vorbeugendes Mittel bei übermäßiger Kälte. Überhaupt das Ansetzen von Kräutern mit Wein war ein erster Ansatz in Richtung moderner Phytopharmakologie. Man darf das hier geschilderte nicht in Bausch und Bogen als unwissenschaftlich abtun, denn wir wissen nur zu genau, daß Glaube Berge vesetzen kann – und sei es „nur“ Aberglaube. Daher wird es immer wieder Heilungen gegeben haben, die die Richtigkeit der Behandlungsmethode bewiesen. Bedenkt man ausserdem, daß das genaue Wissen um die Entstehung und die Wirkungen des Weines erst etwas älter als hundert Jahre ist, daß es Wein aber seit tausenden von Jahren gibt, versteht man vielleicht wieso sich so viele verschiedene mystische Vorstellungen um ihn ranken konnten.