Der bekannte französische Altertumsforscher Marcel Detienne hat in seinem Werk über den griechischen Gott Dionysos geschrieben: „Die Medizin steht der Kunst, den Wein zuzubereiten, ebenso nahe wie der natürlichen Weisheit im Umgang mit dem Weinstock und dem Weinbau“ Hat der Arzt etwa grundsätzlich eine besondere Beziehung zum Wein? Wenn man, wie ich, als Arzt über den Wein schreibt, bereitet es jedenfalls Freude zu sehen, daß sich Medizinerkollegen früherer Jahrhunderte auch schon intensiv mit dem Wein beschäftigt haben. Ausserdem stellen ihre, mit ausgebildeten Medizineraugen gemachten Beobachtungen häufig eine gute Grundlage für eigene Einsichten dar. So war es auch beim Thema dieses Textes. Ich hatte nämlich einen sehr deutlichen Hinweis auf die besonderen gesellschaftlichen Strukturen der Weinfreunde in einem meiner medizinischen Lieblingsbücher, der „Encyklopädie der Volksmedizin“ von Georg Friedrich Most aus dem Jahre 1843, gefunden. Der Autor beschreibt darin die Wirkungen verschiedener Getränke auf den menschlichen Organismus und bei seinem Vergleich des Kaffees mit dem Wein habe ich erstaunt gelesen: „Der Kaffee ist in seinen Wirkungen dem Wein entgegengesetzt; ersterer macht munter, letzterer schläferig; wirkt der Wein mehr aufs Gemüth und regt die Affekte an, so wirkt der Kaffee mehr auf den Geist, macht ruhig, besonnen, abgemessen, zurückhaltend, calculirend. Daher ist er das Lieblingsgetränk der Mathematiker, Astronomen, Philosophen, Historiker, Naturforscher, Diplomaten und Kaufleute. Den Wein dagegen lieben mehr Dichter, Musiker, Maler, Schauspieler und Krieger.“ Ich kann mir kaum vorstellen, daß der Rostocker Professor, der diese Zeilen schrieb, schon eine genaue Vorstellung von der Soziologie als Wissenschaft hatte. Dennoch, so scheint mir, steckt hinter seiner Beobachtung ein gewaltiges Quentchen gesellschaftlicher Wahrheit, obwohl auch seine aufgestellten Regeln zur Soziologie der Weingeniesser Ausnahmen kennen. Eine der berühmtesten ist vielleicht der Mathematiker, Physiker und Weinfreund Georg Christoph Lichtenberg, von dem gleich noch die Rede sein wird.
Daß Künstler den Wein lieben ist leicht zu begreifen, warum Krieger den Wein lieben sollten ist dagegen nicht sofort ersichtlich. Sicherlich war von Most nicht gemeint, daß sich die Krieger mit Wein Mut antrinken sollten bevor sie in die Schlacht zogen, obwohl es vereinzelt auch solche Gründe für das Weintrinken der Soldaten gab: im 1. Weltkrieg z.B. erhielten französische Frontsoldaten reichliche Weinzuteilungen um ihre Stimmung zu heben und ihren Kampfwillen zu stärken. In Bezug auf die Aussagen von Most muß man versuchen die Zusammenhänge von Krieg und Wein aus dem intellektuellen Gesichtswinkel der Zeit des Autors heraus zu verstehen. Die Kriegsführung wurde, insbesondere natürlich in Preussen, tatsächlich als eine hohe Kunst angesehen, ja man sprach auch noch im 19. Jahrhundert bewundernd von der „Kriegskunst“. Napoleon Bonaparte und seine „napoleonischen Kriege“, die Europa verändert haben, sind zum Inbegriff dieser Kunst geworden. Der Schweizer Robert Walser, ein geistiges Kind des 19. Jahrhunderts, der so wundervoll lyrische Prosa schrieb, bemerkte in seinem Essay „Der Spaziergang“ u.a.: „Ich bin in der letzten Zeit zu der Überzeugung gekommen, daß Kriegskunst und Kriegführung fast so schwer und geduldheischend sind wie Dichtkunst und umgekehrt.“ Napoleon, der unbestritten erfolgreiche Feldherr war ein großer Verehrer des Burgunders und es ist überliefert, daß er bei seinen strategischen Planungen und taktischen Überlegungen immer eine geöffnete Flasche Chambertin von der Côte de Nuits neben sich hatte, den er meist verdünnt mit Wasser zu sich nahm. Der Wein war ein Stimulans, der die Gedanken geschärft und das strategische Denken positiv beeinflußt hat. Erst die grauenvollen Kriege des 20. Jahrhunderts haben die Einstellung zur „Kriegskunst“ und den damals in gewisser Weise noch „humanen“ Aspekten der Kriegsführung, grundlegend verändert. Die maßlosen Diktatoren wurden zu Mördern an der Zivilbevölkerung und waren nicht selten fanatische Abstinenzler, der traurigste unter ihnen war sicherlich der „größte Feldherr aller Zeiten“, Deutschlands schnauzbärtiger „Führer“.
Wein trinken und geniessen ist etwas Emotionales, und im Wein kann der Künstler Inspiration finden. Keiner hat dies schöner und treffender ausgedrückt als Shakespeare in seinem „König Heinrich der Vierte“ (2. Teil, 4. Aufzug, 3. Szene) , wo er den lebensfrohen Falstaff in der Schlegelschen Übersetzung ausrufen lässt: „(der Wein, in dem Fall der Sherry) steigt Euch in das Gehirn, zerteilt da alle albernen und rohen Dünste, die es umgeben, macht es sinnig, schnell und erfinderisch, voll von behenden, feurigen und ergötzlichen Bildern; wenn diese dann der Stimme, der Zunge, überliefert werden, was ihre Geburt ist, so wird vortrefflicher Witz daraus“. Der vortreffliche Witz können natürlich auch die schönen Farben und Formen des Malers oder Bildhauers bzw. die harmonischen Klänge des Musikers sein. Der Alkohol wird in der deutschen Sprache ja gelegentlich auch liebevoll als „Weingeist“ apostrophiert, was auch schon die Römer mit dem Begriff „spiritus“ (der Geist) zum Ausdruck brachten und die Germanen benutzten dieses Wort dann als Bezeichnung für alkoholischen Brennstoff. Von diesem Wort ist es nicht mehr weit zum französischen „esprit“, womit wir wieder bei „geistreich, erfinderisch“, also ganz im Sinne Shakespeares, sind. Auch Goethe stellte in einem Brief vom 11. März 1828 an Eckermann fest: „Es liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art; aber es kommt dabei alles auf Zustände und Stunde an, und was dem einen nützt, schadet dem anderen“. Ebenso deutlich hat der bereits erwähnte Georg Christoph Lichtenberg in seinen „Sudelbüchern“ von den positiven (und negativen) Wirkungen des Weingenusses gesprochen. Dort lesen wir zum Thema Kreativität den begeisterten Ausruf: „Es sind wenig Dinge in der Welt, die eines Philosophen so würdig sind, als die Flasche, die cum spe divite durch die Gurgel eines Liebhabers oder eines Dichters fließt“ und etwas später im gleichen Absatz fährt er fort: „Gebraucht es, Menschen, als Philosophen und lernt erkennen was Wein ist.“ (Heft B 77). Der Göttinger Professor Lichtenberg (1742 – 1799) war Mathematiker und Physiker, in seinen Schmier- und Gedankenbüchern, den „Sudelbüchern“ hat er eine Sammlung Aphorismen hinterlassen, die berühmt wurden und entsprechend seiner Liebe zum Wein, finden sich viele, die sich mit diesem Thema befassen. „Der Mensch ersetzt oft durch Phantasie und Wein, was ihm an Naturkräften abgeht. Das muß notwendig ganz eigene Phantasie und Weingeschöpfe hervorbringen.“ schreibt er an anderer Stelle (Sudelbücher, Heft L, 33). Lichtenberg hat mehrfach beklagt, daß zwar viel über die Weinbereitung geschrieben wird und wurde, aber bis dato noch nichts über das Thema „ihn recht zu trinken“. Er war überzeugt, daß man mit den Wirkungen des Weins, dem Rausch, umzugehen lernen müsse, wenn man ein rechter Weinfreund sein wolle. Als Wissenschaftler wollte er daraus eine akademische Lehre machen und träumte davon selbst eines Tages der erste Professor für „Methyologie“ (vom griechischen „methýein“, „berauscht sein“) zu werden. Die Sauf- und Rauschlehre Lichtenbergs wurde leider zu seinen Lebzeiten nicht mehr fertig. Es wäre sicher eine würdige Aufgabe diese in seinem Sinne, nämlich mit einem gehörigen Schuß Satire, über 200 Jahre später zu vollenden.
Der maurische Dichter Ibn Djafadscha aus Granada verfasste im 12. Jahrhundert, der Hochzeit des Islam auf spanischem Boden, folgende Verse
Ihr nennt die Rebe sündig. Doch ich sage ihr:
Du Schöne füllst meine Augen an mit Dunkelheit und Licht.
Du machst zuweilen krank.
Doch süße Töne formst du in meinem Herzen zum Gedicht.
Er wies damit in seiner alkoholfeindlichen Welt, auf den Wein als Quelle der dichterischen Inspiration.Viele Anthologien haben die Aussagen berühmter Frauen und Männer zur schöpferischen Kraft des Weines gesammelt; die Regale der Buchhandlungen sind voll davon.