Eine Liebeserklärung an ein faszinierendes Land. Auch dieser Text ist dem kommenden Buch: „Spanische Leidenschaften“ (Jenior Verlag, Kassel) entnommen.
Hier in Andalusien war Spanien in meiner Vorstellung „am unterschiedlichsten und individuellsten“ und gleichzeitig aber auch am leichtesten zu verstehen, oder ich sollte lieber sagen „am leichtesten zu erfühlen“. Darum bitte ich um Verzeihung, daß ich Andalusien ein eigenes, kleines Kapitel widme und andere, letztlich vielleicht ebenso interessante, Regionen vernachlässige. Schieben wir es wieder auf den Wein: Andalusien ist die Wiege des spanischen Weins. Hier, rund um Málaga und Cádiz, haben die Phönizier die ersten Rebgärten angelegt.
In den frühen Tagen europäischer Geschichte endete die mediterrane Welt an den Säulen des Herkules – dem Felsen von Gibraltar auf der nördlichen und dem Berg Djebel Musa auf der südlichen, marokkanischen Seite. Dahinter, im Westen, begann das große, unendliche Meer, ein damals unvorstellbarer Raum, von dem man annahm er führe direkt ins Totenreich. Eine Schiffstagesreise hinter den Säulen lag im Mündungsgebiet des Guadalquivir das Königreich Tartessos. Vor etwa dreitausend Jahren lebte dort ein reiches und glückliches Volk, dessen Ruf von legendärem Reichtum im gesamten Mittelmeerraum verbreitet war. Tarsis, die Hauptstadt von Tartessos wurde nach 500-jähriger Blüte von den Karthagern zerstört und schon bald begannen sich die Sagen um dieses verzauberte Land zu ranken, die in Platons Beschreibung vom glücklichen „Atlantis“ gipfelten. Tarsis oder das sagenhafte Atlantis mögen zwar geographisch verschwunden sein und irgentwo unter den Dünen oder den Ferienbungalows am Golf von Cádiz schlummern, in der Seele des Andalusiers aber hat es die Jahrtausende überlebt und ist noch immer allgegenwärtig. Der spanische Historiker und Philosoph José Ortega y Gasset, ein scharfer Analytiker der iberischen Halbinsel, schreibt über Andalusien: „Eine unentbehrliche Tatsache für das Verständnis der andalusischen Seele ist ihr Alter. Man vergesse nicht: die Andalusier sind vielleicht das älteste Mittelmeervolk, älter als Griechen und Römer.“
Das heutige Andalusien ist der direkte Nachfahre des „al-Andalus“ der moslemischen Mauren, die dieses Land durch klug betriebene Landwirtschaft zu einer einzigartigen Blüte brachten. Sie holten Zuckerrohr, Reis, Zitrusfrüchte und andere Kulturen hierher und erreichten durch ein perfektioniertes Bewässerungssystem eine bis dahin unbekannte Fruchtbarkeit des bearbeiteten Bodens. Der arabische Dichter Ibn Hafaga schrieb im 11. Jahrhundert nach einem Besuch in „Al-Andalus“:
Wo ist das Paradies, wenn nicht bei Euch zuland?
Ich würde dieses wählen, hätte ich die Wahl.
Ihr, die ihr es bewohnt, bangt um die Hölle nicht;
denn auf das Paradies folgt niemals Höllenqual.
Andalusien ist ein Land der Gegensätze und Kontraste. Dies spiegelt sich nicht nur in den geographischen Gegebenheiten wieder sondern findet sich auch im Wesen seiner Bewohner. Hier ist die Heimat des Fandango und des Cante Jondo, Musik, die sowohl sprudelnde Lebhaftigkeit als auch tiefen Ernst ausdrücken kann und damit einen Teil des Tempramentes der Andalusier charakterisiert. Seine besondere Anziehungskraft verdankt dieses Land seinem Anachronismus, auch noch im 21. Jahrhundert. Es scheint häufig als habe die Zeit stillgestanden. Insbesondere in den Kleinstädten und Dörfern findet man noch einen Lebensstil und eine Lebensauffassung der Bewohner, die in merkwürdigem Einklang mit den barocken Fassaden der Adelspaläste und Kirchen stehen. Die Anordnung der Blumentöpfe auf dem Balkon, Nippessachen auf dem Fernsehapparat und überladene Dekorationen auf dem Altar der Dorfkirche zeugen von der Freude der Andalusier am Ornamentalen. Die verschnörkelten Formen und die grellen Farben, die auch in die Folklore Eingang gefunden haben, verleihen dem andalusischen Leben einen heiteren Sinn. „Der Andalusier ist ästhetisch reich begabt, was sich auch im Alltag erweist; Blumen und Lieder sind seine ständigen Begleiter, eine angeborene Weisheit seine größte Tugend“ schrieb der spanische Historiker Salvador de Madariaga, ein sehr profunder Kenner seines Vaterlandes.
Spaniens Süden präsentiert sich häufig als hartnäckiger Produzent von Touristikklischees und Souvenirkitsch. Die bunte Welt der „Fiestas“, der langen Flamencokleider mit schwarzen Filzhüten sowie eleganten Fächern und Schimmelgezogene Pferdekutschen gehören zum Postkartenimage Spaniens. Dabei sind es nur selten die Anladusier selbst, die diesem Bild von sich huldigen. Es ist der Rest von Spanien, der andalusische Lebensart und andalusisches Lebensgefühl schlichtweg für „spanisch“ deklariert und entsprechend kommerzialisiert hat. Wo findet man aber das wahre Andalusien? Diese Frage ist nicht mit einem geographischen Begriff alleine zu beantworten. Jeder, der dieses Land sucht, muß offen sein. Offen für das intensive Licht der Landschaft, offen für das Lächeln der Menschen und offen für die komplexen geschichtlichen Hintergründe dessen was er sieht. Andalusien ist nicht nur eine Region in Spanien, Andalusien ist ein emotionaler Zustand.
In Sevilla, Córdoba und Granada findet man die einzigartigen und grandiosen Reste der multikulturellen Gesellschaft unter der Herrschaft der Mauren. Arabische, jüdische und christliche Bauwerke und Stadtviertel vermitteln noch heute einen guten Eindruck von der Intensität des damaligen Zusammenlebens der drei großen Religionen. In Sevilla liegen die Giralda – das einstige Minarett der großen Moschee -, die Kathedrale und das jüdische Santa Cruz-Viertel auf engstem Raum beieinander. Von der überwältigenden Moschee in Córdoba ist es einen Katzensprung zur Judería, dem Judenviertel mit einer der wenigen, noch vollständig erhaltenen Synagogen aus maurischer Zeit. Ein Ausflug zu den beeindruckenden Überresten der Kalifenstadt Medina Azahara außerhalb Córdobas, gibt ein überaus lebendiges Bild von der Machtfülle des maurischen Spanien zu seiner Glanzzeit. In Granada schliesslich begegnet man auf Schritt und Tritt den Zeugen der arabischen und christlichen Geschichte. Das berühmteste Bauwerk ist dort die Burg- bzw. Stadtanlage der Alhambra mit den nasridischen Königspalästen und Gärten, die man ein architektonisches Abbild des Paradieses genannt hat. Aber auch so ein bescheidener Palast wie der kürzlich restaurierte Alcazar Genil vermittelt bereits die ganze Grazie und zerbrechliche Ästetik maurischer Baukunst.
In Granadas „Capilla Real“ schliesslich wird man hautnah mit der Weltgeschichte konfrontiert. Nachdem man die gewaltigen Grabmonumente für die katholischen Könige Isabella und Ferdinand hinter dem berühmten Schmiedeeisengitter gesehen hat, steigt man hinab in die Königsgruft. Der englische Reiseschriftsteller H.V. Morton beschreibt seine persönlichen Eindrücke an diesem Ort: „Ein paar Meter von mir entfernt standen auf einer Steinplatte die Särge Ferdinands und Isabellas in der Mitte und rechts und links die Särge der Königin Johanna und Philipps von Burgund. Das Gewölbe war kahl, nur die vier Särge standen darin, und an einer Wand, über einer goldenen Krone, war ein Kruzifix befestigt. Ich wußte, daß ich dieses Bild nie wieder vergessen würde, es ist eines der aufwühlendsten Erlebnisse in Spanien und sehr typisch für dieses Land: Oben strahlt das prunkende Grabmonument in standesgemäßer Pracht, aber nur wenige Stufen tiefer beginnt die Wirklichkeit des Todes. Ich vermochte nicht, meine Augen davon abzuwenden.“ So geht es jedem Besucher dieser denkwürdigen Stätte und er spürt hier vielleicht etwas vom tiefen Geheimnis Andalusiens. Der Tod hatte dort schon immer ein besonderes Gesicht und er macht – so absurd dies zunächst klingen mag – ein Stück des Zaubers dieses Landes aus. „Pena y alegria“ (Schmerz und Freude) sind unverzichtbare Bestandteile des Spannungsfeldes in dem sich der Andalusier bewegt. Ihren tiefsten künstlerischen Ausdruck findet dies im „cante jondo“, den arabesken Tönen des Flamencogesanges. Auch das Reizthema Stierkampf gehört in diesen emotionalen Zusammenhang. Große Künstler und Schriftsteller wie Francisco de Goya, Rainer Maria Rilke, Ernest Hemingway oder Pablo Picasso – um nur einige wenige zu nennen – haben, jeder auf seine Art, versucht sein Mysterium zu ergründen und mitzuteilen. Ich verstehe die Kritiker des Stierkampfes sehr gut und habe kein einziges vernünftiges Argument gegen ihre Ablehnung dieses Spektakels. Und dennoch fasziniert mich dieses martialische Schauspiel zu tiefst. Ein Blick auf die Federzeichnungen des Zyklus „Tauromaquia“ von Goya gibt mir die Antwort: es ist die Ästhetik der Leidenschaft und des Feuers, die Stier und Stierkämpfer gleichermaßen auszeichnet. Mich beunruhigt dies, weil ich auf eine seltsame Art selbst zu einem Teil davon werde. In der gezähmten, vernünftigen Welt, in der ich sonst lebe, gibt es diese Emotionen nicht, ja darf es sie garnicht geben.