Die Gesellschaft der Weintrinker (2)

Der Beginn der Weinfreuden: vom Nomaden zum Weinbauern

Vergorenen Traubensaft hat unsere Spezies, der Mensch, schon in grauer Vorzeit als Getränk dem Wasser vorgezogen. Das ist verständlich, denn Wein hatte tatsächlich viele Vorzüge. Er war als Getränk hygienisch erheblich sicherer als das Wasser, das ja ausserdem noch als Zeichen tiefster Armut galt. Vom Wein wurde man in den frühen Tagen unserer Kultur deutlich seltener krank als vom Wasser. Gegenüber dem oft gefährlichen Brunnen- oder Flußwasser besaß Wein den Vorteil wesentlich geringerer Keimbelastung. Ausserdem hatte er die bereits erwähnten psychotropen (berauschenden) Effekte und war noch dazu äusserst nahrhaft. Völlig berechtigt erhielt der Mensch aufgrund dieser Kenntnis das Attribut „homo sapiens“ (der wissende Mensch). Es gibt Historiker, die behaupten sogar, der Wein sei eine der treibenden Kräfte für die Entwicklung unserer westlichen Zivilisation gewesen. Sie begründen dies damit, daß Trinker von Wein, selbst wenn sie vielleicht öfter benebelt waren, auf Grund seiner gesundheitsfördernden Effekte länger lebten und sich wegen höherer sexueller Appetenz auch mit grösserem Erfolg fortpflanzen konnten. Dies habe dann im Laufe der Entwicklung zu einer genetischen Selektion in Richtung auf eine Zuneigung zum Wein ergeben.

Aufgrund ihrer komplexen Biologie und großen Pflegebedürftigkeit konnten Rebstöcke erst von seßhaften, nicht von nomadischen Gesellschaften angebaut werden. Weinbau war demzufolge auch eine der Triebfedern des Menschen das ständige Umherziehen zu beenden und sich niederzulassen. Victor Hehn, ein Kulturhistoriker und Zeitgenosse Goethes, war wie dieser, beseelt von der Schönheit des Südens und bezeichnete seine nördliche Heimat als „Bier- und Butterregion“, während er den europäischen Süden eine „Wein- und Ölregion“ nannte. Bier und Butter waren in seiner Vorstellung nicht Ausdruck zivilisierter Sesshaftigkeit, sondern beides entstammte noch der Kultur des nomadischen Hirtendaseins. Erst „Bacchus´Gabe und Minervens Geschenk“, wie er Wein und Öl apostrophierte, brachten nach Hehn den Sieg über die Barbarei. Wir werden später, bei der soziokulturellen Beschreibung der „trockenen“ und „feuchten“ Länder, ähnlichen Begriffen wieder begegnen. Wein in all seinen vielen Spielarten hat über die Jahrtausende die Geselligkeit erhöht, was dem jeweiligen sozialen Gefüge, in dem Wein getrunken wurde, sehr förderlich war. Wein war auch ein nicht zu unterschätzender ökonomischer Faktor, der den interkulturellen Warenaustausch beflügelte. Wohl aufgrund all der genannten Eigenschaften, die für das Leben und den Wohlstand der Menschen so wichtig waren, erhielt er eine bedeutsame Rolle in der Liturgie des jüdischen und später auch des christlichen Glaubens. Nebenbei bemerkt, auch die Moslems waren keine Kostverächter, obwohl darüber aus verständlichen Gründen – der Koran verbietet den Alkoholgenuß – nur wenige literarische Quellen existieren! Auf diesen genannten Hintergründen baut unsere 7000-jährige Liebe zum Wein, der aus der Frucht einer gänzlich unscheinbaren Pflanze, die aus dem Nahen Osten stammt, und den prosaischen botanischen Namen „vitis vinifera“ trägt. Der Wein soll auch schon zu einem kriegsentscheidenden Faktor geworden sein. Eine berühmte Geschichte ist die vom Rothenburger Bürgermeister Nusch im Dreißigjährigen Krieg. Seine Stadt mußte sich den Truppen des kaiserlichen Feldherrn Tilly ergeben, der großmütig versprach, er werde die Stadt schonen, wenn sich ein Ratsherr fände, der einen Weinkrug mit dreieinhalb Litern Inhalt in einem Zug leeren könnte. Nusch traute sich diese Aufgabe zu, schaffte es und bewirkte tatsächlich, daß Rothenburg nicht zerstört wurde. Was Tilly damit bezweckt haben mag, darüber können wir nur spekulieren. Vielleicht war es dem großen Feldherren und Nachfolger Wallensteins schlichtweg eine so große Freude einen, in Bezug auf die Liebe zum Wein, Gleichgesinnten unter den Feinden gefunden zu haben, daß er Großmut walten liess. Die Bedeutung des französischen Weins im zweiten Weltkrieg haben Don und Petie Kladstrup in einem lesenswerten Buch festgehalten. Die Bonzen des Dritten Reichs haben versucht sich mit den großen Lagen des zunächst unterlegenen Feindes einzudecken. Wie Wein und Macht dabei zusammenwirkten ergab eine sehr spannende Geschichte, in der Großmut allerdings nicht vorkommt.

Wein als Statussymbol und Inspiration

„Ich glaube dem Wein kommt heutzutage die gleiche Rolle zu wie vor etlichen Jahren den Uhren oder den Autos. Wein zeigt, daß man Geld hat, aber er zeigt auch, daß man Geschmack hat“. Dies schrieb der Chefredakteur des amerikanischen Magazins „The Wine Spectator“ Thomas Matthews. Diese Aussage trifft mit angelsächsischer Einfachheit und Anschaulichkeit den aktuellen Kern eines Phänomens in der langen Geschichte des Weines, welches mich zu der Beschäftigung mit der Frage getrieben hat, wer, im gesellschaftlichen und historischen Kontext, die Weinfreunde eigentlich sind bzw. waren.

Der berühmte französische Altertumsforscher Marcel Detienne hat in seinem Werk über den griechischen Gott Dionysos geschrieben: „Die Medizin steht der Kunst, den Wein zuzubereiten, ebenso nahe wie der natürlichen Weisheit im Umgang mit dem Weinstock und dem Weinbau“ Hat der Arzt etwa eine besondere Beziehung zum Wein? Jedenfalls wenn man, wie ich, als Arzt über den Wein schreibt, bereitet es Freude zu sehen, daß sich Medizinerkollegen früherer Jahrhunderte auch schon intensiv mit dem Wein beschäftigt haben. Ausserdem stellen ihre, mit ausgebildeten Medizineraugen gemachten Beobachtungen häufig eine gute Grundlage für eigene Einsichten dar. So war es auch beim Thema dieses Buches. Ich hatte nämlich einen sehr deutlichen Hinweis auf die besonderen gesellschaftlichen Strukturen der Weinfreunde in einem meiner medizinischen Lieblingsbücher, der „Encyklopädie der Volksmedizin“ von Georg Friedrich Most aus dem Jahre 1843, gefunden. Der Autor beschreibt darin die Wirkungen verschiedener Getränke auf den menschlichen Organismus und bei seinem Vergleich des Kaffees mit dem Wein habe ich erstaunt gelesen: „Der Kaffee ist in seinen Wirkungen dem Wein entgegengesetzt; ersterer macht munter, letzterer schläferig; wirkt der Wein mehr aufs Gemüth und regt die Affekte an, so wirkt der Kaffee mehr auf den Geist, macht ruhig, besonnen, abgemessen, zurückhaltend, calculirend. Daher ist er das Lieblingsgetränk der Mathematiker, Astronomen, Philosophen, Historiker, Naturforscher, Diplomaten und Kaufleute. Den Wein dagegen lieben mehr Dichter, Musiker, Maler, Schauspieler und Krieger.“ Ich kann mir kaum vorstellen, daß der Rostocker Professor, der diese Zeilen schrieb, schon eine wirkliche Vorstellung von der Soziologie als Wissenschaft hatte. Dennoch, so scheint mir, steckt hinter seiner Beobachtung ein gewaltiges Quentchen gesellschaftlicher Wahrheit.

Daß Künstler den Wein lieben ist leicht zu begreifen, warum Krieger den Wein lieben sollten ist dagegen nicht sofort ersichtlich. Sicherlich war von Most nicht gemeint, daß sich die Krieger mit Wein Mut antrinken sollten bevor sie in die Schlacht zogen. Man muß versuchen die Zusammenhänge von Krieg und Wein aus der damaligen Zeit heraus zu verstehen. Die Kriegsführung wurde, insbesondere in Preussen, tatsächlich als eine hohe Kunst angesehen, ja man sprach auch noch im 19. Jahrhundert bewundernd von der „Kriegskunst“. Napoleon Bonaparte und seine „napoleonischen Kriege“, die Europa verändert haben, sind zum Inbegriff dieser Kunst geworden. Robert Walser, der so wundervoll lyrische Prosa schrieb, bemerkte in seinem Essay „Der Spaziergang“ u.a.: „Ich bin in der letzten Zeit zu der Überzeugung gekommen, daß Kriegskunst und Kriegführung fast so schwer und geduldheischend sind wie Dichtkunst und umgekehrt.“ Napoleon, der unbestritten erfolgreiche Feldherr war ein großer Verehrer des Burgunders und es ist überliefert, daß er bei seinen strategischen Planungen und taktischen Überlegungen immer eine geöffnete Flasche Chambertin von der Côte de Nuits neben sich hatte. Der Wein war ein Stimulans, der die Gedanken geschärft und das strategische Denken positiv beeinflußt hat. Erst die grauenvollen Kriege des 20. Jahrhunderts haben die Einstellung zur „Kriegskunst“ und den damals in gewisser Weise noch „humanen“ Aspekten der Kriegsführung, grundlegend verändert. Die maßlosen Feldherren wurden zu Mördern an der Zivilbevölkerung und waren nicht selten fanatische Abstinenzler, der traurigste unter ihnen war sicherlich der „größte Feldherr aller Zeiten“, Deutschlands schnauzbärtiger „Führer“.

Wein trinken und geniessen ist etwas Emotionales, und im Wein kann der Künstler Inspiration finden. Keiner hat dies schöner und treffender ausgedrückt als Shakespeare in seinem „König Heinrich der Vierte“ (2. Teil, 4. Aufzug, 3. Szene) , wo er den lebensfrohen Falstaff in der Schlegelschen Übersetzung ausrufen lässt: „…(der Wein) steigt Euch in das Gehirn, zerteilt da alle albernen und rohen Dünste, die es umgeben, macht es sinnig, schnell und erfinderisch, voll von behenden, feurigen und ergötzlichen Bildern; wenn diese dann der Stimme, der Zunge, überliefert werden, was ihre Geburt ist, so wird vortrefflicher Witz daraus“. Der vortreffliche Witz können natürlich auch die schönen Farben und Formen des Malers oder Bildhauers bzw. die harmonischen Klänge des Musikers sein. Der Alkohol wird in der deutschen Sprache ja gelegentlich auch liebevoll als „Weingeist“ apostrophiert, was auch schon die Römer mit dem Begriff „spiritus“ (der Geist) zum Ausdruck brachten und die Germanen dann als Bezeichnung für alkoholischen Brennstoff nutzten. Von diesem Wort ist es nicht mehr weit zum französischen „esprit“, womit wir wieder bei „geistrich, erfinderisch“, also bei Shakespeare, sind. Auch Goethe stellte in einem Brief vom 11. März 1828 an Eckermann fest: „Es liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art; aber es kommt dabei alles auf Zustände und Stunde an, und was dem einen nützt, schadet dem anderen“. Der maurische Dichter Ibn Djafadscha aus Granada verfasste im 12. Jahrhundert, der Hochzeit des Islam auf spanischem Boden, folgende Verse

Ihr nennt die Rebe sündig. Doch ich sage ihr:
Du Schöne füllst meine Augen an mit Dunkelheit und Licht.
Du machst zuweilen krank.
Doch süße Töne formst du in meinem Herzen zum Gedicht.

und wies damit in seiner alkoholfeindlichen Welt, auf den Wein als Quelle der dichterischen Inspiration.Viele Anthologien haben die Aussagen berühmter Frauen und Männer zur schöpferischen Kraft des Weines gesammelt und sind im Buchhandel erhältlich.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung des menschlichen Verhaltens ist der akademischen Fachrichtung „Soziologie“ vorbehalten. Aber auch als Laien haben wir großes Interesse am Verhalten unserer Mitmenschen, denn es hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns selbst wiedererkennen können. Die Soziologie ist eine typische „Bindestrich-Wissenschaft“, denn sie besteht aus vielen Untergruppierungen wie z.B. der Medizin-Soziologie, der Religions-Soziologie oder der Bildungs-Soziologie. Was mir im Wust der vielen Begriffe allerdings noch nicht begegnet ist, ist das Wort „Weintrinker“ vor dem Bindestrich. Also habe ich einen zaghaften Versuch unternommen, Material über die Ausdrucksformen der Weintrinker in Vergangenheit und Gegenwart zu sammeln. Was dabei herausgekommen ist, stellt keinerlei Ansprüche auf soziologische Wissenschaftlichkeit und ich wäre schon zufrieden, wenn berufenere Autoren das Thema zum Anlass einer gründlicheren Studie nähmen.

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