Angostura und das Drumherum

Die kleine Flasche mit dem würzigen Inhalt.

In meiner Erinnerung stand in beinahe jeder Hotelbar in einem Eckchen ein Sammelsurium von Dingen: das Cocktail-Sieb, lange Rührstäbe, eine Schale mit halbierten Zitronenscheiben und eine Anzahl kleiner Fläschchen. Neben Tabasco und Worcestershire-Sauce fiel mir immer die in völlig weisses, mit Text bedrucktem Papier eingewickelte Flasche auf, auf der groß in etwas verschnörkelten Buchstaben „Angostura“ stand. Angeblich wurde das erste Etikett versehentlich in einer für die vorgesehene Flasche viel zu großen Variante in Auftrag gegeben und dann aus Sparsamkeit des Herstellers trotzdem benutzt. Heute ist es ein Markenzeichen des Angostura. Allerdings habe ich nie in einer Bar gesehen, dass das Angostura-Fläschchen je benutzt wurde und einmal fasste ich mir ein Herz und fragte den Barmann was es mit dem Angostura wohl auf sich hätte. Es sei ein „Bitter“ für manche Mixgetränke war die schlichte Antwort. „Probieren Sie mal einen Manhattan, dann wissen Sie´s“ fügte er noch hinzu. Ich habe den „Manhattan“ nie getrunken, aber einmal in einer Londoner Pub bestellte ein Nachbar an der Theke einen „Pink G and T“ (Dschie an Tie) und als ich sah, dass dem klassischen Gin-Tonic am Schluss einige Tropfen Angostura hinzugefügt wurden, war meine Neugier auf diese rote Flüssigkeit endgültig geweckt.

Man wundert sich immer wieder wie erfindungsreich unsere deutschen Landsleute  sein können und welch große Verbreitung deutsches Wissen in der Welt erfahren hat; Angostura ist dafür eines unter unzähligen Beispielen. Ein schlesischer Arzt namens Johann Gottlieb Benjamin Siegert (1796 – 1870) war sein Erfinder. Nachdem er als preußischer Stabsarzt gegen Napoleons Armee an der Schlacht von Waterloo teilgenommen hatte ist er 1820 nach Venezuela ausgewandert. Dort hat er im kleinen Städtchen Angostura (heute Ciudad Bolívar) als Privatarzt pharmakologische Forschungen zur Bekämpfung von Tropenkrankheiten aufgenommen. Er brachte bald das „Dr. Siegert´s aromatic bitter“ oder, wie man es auf Spanisch nannte „amargos aromáticos“ heraus in dem er u. a. Bitterorangen, Zimt, Enzianwurzel, Kardamom, Gewürznelken, Muskatblüte, und Chinarinde verarbeitet hatte. Der bittere Trank war als symptomatische Therapie und allgemeines Stärkungsmittel so erfolgreich, dass Siegert begann das mittlerweile umbenannte „Angostura aromatic bitter“ vornehmlich nach England zu exportieren, wo es sich, mit Gin gemischt, als Tonicum großer Beliebtheit erfreute. 1875 wurde die stark expandierende Firma wegen politischer Unruhen in Venezuela kurzerhand nach Trinidad verlegt, wo sie heute noch existiert. Die Bedeutung der „amargos aromáticos“ als medizinisches Produkt verschwand durch die gewaltigen Fortschritte der Antibiotika-Forschung im beginnenden 20. Jahrhundert, denn dadurch wurde eine kausale Behandlung der infektiösen Tropenkrankheiten ermöglicht. Geblieben ist das einzigartige Bitteraroma in den erwähnten kleinen Flaschen auf der Theke der Hotelbar.

An dieser Stelle würde ich gerne noch einmal auf den eingangs erwähnten „Pink G and T“ zurückkommen, denn an ihm ist ein anderer Deutscher maßgeblich mitbeteiligt. Auch der Ursprung des sog. „Tonic Water“ hat medizinische Wurzeln. Das darin enthaltene Chinin stammt aus der Rinde des Chinarindenbaumes und wird nicht nur als Bitterstoff sondern auch als fiebersenkendes Arzneimittel vorwiegend bei der Malaria eingesetzt. Tonic Water wurde tatsächlich als Malaria-Prophylaxe empfohlen und im Jahre 1792 gründete der deutsche Unternehmer Johann Jacob Schweppe (1740 – 1821) in London ein Getränkeunternehmen und entwickelte die Idee eines Sodawassers für medizinische Anwendung, dem Chinin und als Geschmackskorrektur Limettenextrakt zugesetzt war. Das Unternehmen, das nach dem Tod des Gründers seinen Namen „Schweppes“ beibehielt, erhielt 1858 ein Patent für das chininhaltige Tonic Water.  Die Entwicklung von Angostura und Tonic Water hat demnach nicht nur deutsche Wurzeln sondern fand auch mehr oder weniger zur gleichen Zeit statt.

Vergangenen Sommer wollte ich mir einen Tinto de Verano machen, hatte aber gerade keinen passenden Rotwein zur Hand. Da dachte ich, dass es vielleicht ein Rosé auch täte. Der Wein mit der Zitronenlimonade auf viel Eis war zwar erfrischend, aber geschmacklich eher fade. Da fiel mir das Fläschchen Angostura ein und ein Spritzer davon in den „Rosado de Verano“ verwandelte das Getränk in ein derartiges Geschmacksfeuerwerk, dass ich von da an den sog. Tinto immer auf diese Art machte. So ein „Rosado de Verano“ mit den zarten Bitternoten aus Trinidad regt übrigens den Appetit an und ist daher auch ein großartiger Apero! Fast alle alkoholischen Cocktails vertragen ein bis zwei Spritzer Angostura, denn sein sehr komplexer Geschmack harmonisiert, selbst in kleinsten Mengen, jede andere Geschmacksmischung. Zwar verfügt Angostura selbst über stolze 44 Vol.-% Alkohol, aber bei der üblichen Verdünnung liegt die Alkoholkonzentration im homöopathischen Bereich, d.h. selbst in alkoholfreien Getränken wie z.B. dem Rumfreien Planter´s Punch kann man den Bitter verwenden. Eines ist leider völlig klar:  es gibt keinen wirklichen Ersatz für Angostura, weder Campari noch andere Kräuterliköre bzw. –schnäpse können das unverwechselbare Aroma aus der Karibik ersetzen. Diese Einmaligkeit ist schließlich das Erfolgsrezept des deutschen Militärarztes Dr. Siegert gewesen.

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