Eine sehr persönliche Sicht auf das Altern

Das Altern: ein farbenfroher Herbst des Lebens.

Das Altern: ein farbenfroher Herbst des Lebens

Der Aufenthalt bei den farbenfrohen Bienenfressern hat mich zur Nachdenklichkeit  gebracht und ich habe ein wenig über mich selbst und mein Leben reflektiert. Nach der Aufgabe von „La Vineria“ war für mich offenbar der Zeitpunkt gekommen mich mit den Jahren meines aktiven Geschäftslebens einmal kritisch auseinanderzusetzen. Habe ich meine Ziele erreicht und hat mich das glücklicher gemacht? Vielleicht ist es ja völlig falsch ein Leben sezieren und in Bestandteile zerlegen zu wollen um diese dann anschließend getrennt von einander zu betrachten. Ist es nicht immer die Gesamtheit aller Zeitabläufe, die das komplexe Gewebe unseres Daseins zusammenhalten? Meine Überlegungen und Gedanken zur Vergänglichkeit der Zeit, wie ich sie immer wieder versucht habe in Wort und Schrift mit Freunden zu diskutieren, sind Ausdruck der Erkenntnis, dass für mich selbst letztlich nur meine eigene Zeit (Egozeit) von Bedeutung ist. Das ist nichts Spezifisches für meine Person, sondern gilt für jedermann.

Meine Egozeit wurde in den letzten Jahren von einem ganz wichtigen Element der menschlichen Biologie beherrscht, nämlich dem Altern. Ich meine nicht die Pigmentflecken auf dem Handrücken oder die steifen Gelenke am Morgen sondern das, was sich in den Jahren im Kopf abgespielt und festgesetzt hat. Der Prozess des geistigen Alterns ist schleichend verlaufen, gelegentlich habe ich es bemerkt, meistens aber nicht.

Ein Merkmal meines Alterns ist, dass ich glaube die Zeit liefe heute viel schneller ab als in der Jugend. Als junger Mensch hatte ich gelegentlich Langweile. Ich habe abends auf dem Sofa gesessen und gewartet, dass endlich jemand anruft oder vorbei kommt und mich auffordert etwas mit ihm oder ihr zu tun. Häufig habe ich vergeblich gewartet, während das Radio lief und meine unbestimmten Sehnsüchte mit eingängigen Pop-Melodien umnebelte. Zurückschauend kann ich mit einigem Recht behaupten, dass ich viel Zeit mit Warten verplempert habe. Ich habe früher sehr schnell gelebt und war der Zeit oft ein wenig voraus. Wenn dann nichts geschah erschien mir meine Umgebung in Stillstand verharrend und ich empfand gelegentlich frustrierende Langeweile.

Heute ist es umgekehrt: ich lebe deutlich langsamer als früher und deshalb nehme ich die Bewegungen meiner Umwelt als viel schneller wahr. So kommt es, dass gegenwärtig die Zeit schneller vergeht, weil ich mich langsamer bewege. Dies vermittelt mir das Gefühl der heutigen Schnelllebigkeit. Da sich, wie ich mich noch gut erinnere, schon meine Großeltern über die Schnelllebigkeit der Zeit meiner eigenen Jugend beklagt hatten, nehme ich an, dass es das Gefühl des „Langsamer-lebens“ älterer Menschen schon immer gab. Wie wir wissen ist die Wahrnehmung der eigenen Geschwindigkeit immer relativ. Wenn wir am Bahnhof durch das Zugfenster sehen und der Zug auf dem Nachbargleis sich in Bewegung setzt, haben wir das Gefühl, dass wir uns selbst bewegen obwohl wir noch stehen. Mit der Lebensgeschwindigkeit ist es ganz ähnlich, der Vergleich zur mittel- und unmittelbaren Nachbarschaft bestimmt unsere Wahrnehmung des eigenen Lebenstempos.

Wir ahnen vage was unter Lebensgeschwindigkeit  zu verstehen ist, aber kann man diese Geschwindigkeit messen? Gibt es dafür einen Tachometer? Der amerikanische Psychologe und Zeitforscher Robert Levine hat es versucht. Seine Methodik sieht auf den ersten Blick eher banal aus, er hat nämlich die Geschwindigkeit gemessen mit der Menschen in verschiedenen geographischen Gegenden zu Fuß gehen. Tatsächlich hat er große Unterschiede gefunden und diese mit anderen Parametern wie z.B. dem Tragen von Armbanduhren, der Zeit für den Kauf einer Briefmarke auf der Post oder der Genauigkeit öffentlicher Uhren in Zusammenhang gebracht. Wen wundert es, dass in diesen Studien die Schweiz, Japan und Deutschland die Länder mit der höchsten Lebensgeschwindigkeit waren?

Jetzt stellt sich mir die Frage, ob die Beziehung des Lauftempos zur Lebensgeschwindigkeit auch in umgekehrter Richtung existiert, d.h., verringert sich die Lebensgeschwindigkeit wenn man seine Laufgeschwindigkeit drosselt? Aus eigener Erfahrung glaube ich, dass es tatsächlich so sein könnte. Es ist ein faszinierender Gedanke, dass man durch physische Entschleunigung auch eine psychische Entschleunigung erreichen kann. Wenn man allerdings die eigene Gehgeschwindigkeit als Ausdruck körperlicher Fitness sieht oder sehen will, kann man  damit zeigen wie „jung“ und „unverbraucht“ man ist und fordert gegenüber seinen gleichaltrigen und vermeintlich weniger beweglichen Mitmenschen eine soziale Sonderstellung. Ja, manch einer erkämpft sich damit und mit Hilfe einer Milliarden schweren Anti-Aging Industrie „seine zweite Jugend“. Dass dieser „Jugendwahn“ nicht unproblematisch ist, ergibt sich zwangsläufig.

Das Verjüngungsbad im magischen Becken des am Beginn der Neuzeit gemalten „Jungbrunnens“ vom damals 74jährigen Lucas Cranach ist heute durch Pillen, Ernährungszusätze, Kosmetika und Fitnessgeräte ersetzt worden. Ist es nicht zu tiefst irritierend, dass der Mensch, der seine Vormachtstellung in der Natur ausschließlich durch seinen Geist erreicht hat, sich mit zunehmendem Alter anscheinend immer mehr über seinen Körper definiert?

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