Gedanken zum Zeitbegriff (II)

Die Zeit ist ein Begriff, der uns einen wichtigen Aspekt der Lebensqualität beschreibt. Dabei begehen vermutlich die meisten Menschen den Fehler die Zeit als objektive Maßeinheit verstehen zu wollen und reden von Wochen, Tagen, Stunden und Minuten. Aber die Zeit ist auch eine ganz subjektive Angelegenheit, denn neben der quantitativen Zeit, die sich in den genannten Zeiteinheiten beschreiben lässt, gibt es die für den Menschen meist wichtigere, qualitative Zeit für die es keine Uhren gibt. Ich meine, dass das eigene Empfinden der Zeitdauer das eigentlich Ausschlaggebende im Leben ist. Ich möchte diese Zeit „Egozeit“ nennen, andere Autoren haben sie  „innere Zeit“ oder „Eigenzeit“ genannt.

Auch der Wein hat seine ganz eigene Zeit: unterschiedliche Weine und Jahrgänge benötigen eine ganz individuelle Zeit für ihre Reife. Es gibt, außer der Erfahrung des Genießers keine Parameter an denen man diese Entwicklung festmachen könnte. In der Önologie (Lehre vom Wein) hat die Wissenschaft das Verhalten des Weins in der Flasche noch nicht als Forschungsprojekt entdeckt. Auf diesem Gebiet herrscht noch ausschließlich die Empirie. Das Schöne, aber auch das Verräterische an der Zeit ist ihr ständiges Nachrücken. Eine Zeit vergeht, quantitativ oder qualitativ, und sofort beginnt eine neue. Man könnte auch sagen, dass Gegenwart und Zukunft immer mehr oder weniger rasch zur Vergangenheit werden.  Dadurch mag der oberflächliche Eindruck entstehen, dass es immer genügend Zeit gibt. Das ist aber leider nur teilweise richtig. Wir haben in unserer Gesellschaft gelernt die quantitative, d.h. die meßbare Zeit, zu verdichten. Dies beinhaltet, dass man in einer Zeiteinheit wesentlich mehr erledigt als es Menschen in der Vergangenheit tun konnten. Moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel ermöglichen dies. Auch die Reifezeit eines Weines kann durch entsprechende Lagerbedingungen verdichtet werden.

Das Ausmaß der Zeitverdichtung bestimmt beim Menschen die „Lebensgeschwindigkeit“ bzw. beim Wein die „Reifegeschwindigkeit“. Bei uns drückt sich dies irgendwie in der Anzahl der Aktivitäten einer Person pro Zeiteinheit aus. Im Berufsleben, aber auch im Privatleben haben wir gelernt mit dieser Komprimierung der Zeitinhalte mehr schlecht als recht zu leben. Wenn die Inhalte aber zu dicht aufeinander folgen erleiden wir Stress. Es ist deutlich schwieriger die qualitative Zeit, die Egozeit, zu verdichten, denn dazu fehlen die entsprechenden technischen oder technologischen Hilfsmittel. Das kann nur Mensch aus sich selbst heraus bewerkstelligen. Der dringende Wunsch einer Egozeitverdichtung leitet sich häufig genug aus den „positiven“ Erfahrungen des kontinuierlichen „mehr“ mit der quantitativen Zeitverdichtung ab. Intensiver und bewusster zu leben, sinnliche Eindrücke zu verstärken und Emotionen auszuleben sind die potentiellen Ziele der qualitativen Zeitverdichtung.

Wie schon im vorangegangenen Blog erwähnt, kann auch ein Wein sterben. All die Eigenschaften, die seine Persönlichkeit und seine Seele ausmachten, verschwinden und was er am Ende unseren Geruchs- und Geschmacksnerven vermittelt ist dumpfe Monotonie: keine Säure, keine Tannine mehr, erloschene Tertiäraromen und, wenn es hoch kommt, noch ein Rest von jener schalen „Todessüße“. So attraktiv der Alterungsprozess einmal gewesen sein mag, der Tod eines Weines ist für die Sinnesorgane des Genießers eine deprimierende Angelegenheit. Deprimierend deswegen, weil dieser Zustand so unwiderruflich und endgültig ist; beim Wein gibt es keinen Glauben an ein Leben danach oder an eine Wiedergeburt. Das Leben eines Weines ist strikt an die Zeit gebunden und kennt keine Ewigkeit, der Wein lebt nur in der Erinnerung des Genießers fort.

Ludwig Wittgenstein, hat in seinem berühmten „Tractatus logico-philosophicus“ geschrieben (6.4311): „Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.“ Ist das nur eine philosophische Spitzfindigkeit oder tiefe Weisheit? In jedem Fall ist sie für den Weintrinker eine tröstliche Vorstellung, denn mit jedem bewusst zu sich genommenen Schluck eines großen Tropfens hätte man Ewigkeit getrunken! Besser kann man das immense Glücksgefühl nach einem großen Gaumenerlebnis kaum beschreiben. Aus einer gemessenen Zeiteinheit auf der Uhr  „Unzeitlichkeit“, sprich „Ewigkeit“ nach Wittgenstein, werden zu lassen, ist das große Geheimnis der Egozeit.

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