Der Traum vom Wein aus der Retorte

Wir reden heutzutage viel von „gepanschten“ oder „von der Chemie verbesserten“ Weinen. In diesem Zusammenhang bin ich auf eine höchst amüsante Literaturstelle aus dem 19. Jahrhundert gestossen. Johann Wolfgang Döbereiner, geb. 1780 und gestorben 1849, war einer der großen Chemiker seiner Zeit. Er gilt als der Vater der systematischen Ordnung der chemischen Elemente, seine „Triadenlehre“ war eine wichtige Vorarbeit zur Aufstellung des Periodensystems, einer der Grundlagen der modernen Chemie. Döbereiner stand in ganz engem Gedankenaustausch mit seinem Vornamensvetter Goethe. Er schrieb 1822: „Wein – das Produkt der Gärung derjenigen zuckerreichen Obst- und Beerenfrüchte, welche sich durch angenehme Wirkung auf die Geruchs- und Geschmacks-Organe auszeichnen – ist für jeden Menschen, welcher mehr eine geistige als mechanische Thätigkeit übt, ein unentbehrliches Bedürfniß geworden – ein Bedürfniß, dessen Befriedigung jedoch manchem braven Manne oft mehr Geld kostet, als er nach seiner Einnahme für sich verwenden sollte. So ist z.B. ein Professor der Chemie auf irgend einer Universität im nördlichen Deutschland nur selten so gut besoldet, daß er, besonders wenn er Familienvater ist, sich erlauben könnte, täglich eine Flasche oder so viel guten Wein zu trinken, als zur Erhaltung seines Frohsinns und seiner Gesundheit, die fast täglich durch die Einwirkung der schädlichen Potenzen gestört wird, erforderlich ist.“ Das sagt uns nicht nur viel über die Einstellung des Professors zum Wein sondern auch über die soziologische Zusammensetzung der Weintrinker am Beginn des 19. Jahrhunderts.

Goethes allseits bekannte Vorliebe für den Wein zeigt, daß er begütert genug war sich dies leisten zu können. Döbereiner war ein Kind seiner Zeit, in der der Fortschrittsglaube keine Grenzen kannte und er weissagte im oben erwähnten Schriftsatz: „Dieser Umstand (Anm. des Verf.: die geringe Verfügbarkeit von Wein) und das Bestreben der gebildeten Menschen, alles was die Natur versagt, oder, nach unserer Meynung, nicht vollendet hat, durch die Kunst zu ersetzen, mußte die Chemiker veranlassen, zu versuchen, jenen herrlichen Trank überall da, wo die Natur keinen Stoff zu seiner Bereitung darbietet, künstlich nachzubilden“. Es scheint als hätte er geahnt, daß man einmal chaptalisieren,  chemisch entsäuern, konzentrieren oder Aromahefen verwenden würde, und dies tatsächlich um der Natur mehr oder weniger nachzuhelfen.

Daß Wein einen besonderen Wert darstellt, den man zu schätzen wissen muß, hat Goethe wohl verstanden. In einem Brief an Christiane Vulpius schrieb er: „Nach dem Gelde ist wohl der Wein am ersten wert, daß man sein gedenkt.“ Damit hat er ihn ganz eindeutig in einen soziologischen Zusammenhang gestellt. Die Geldwirtschaft ist in allen Kulturstaaten die Grundlage der jeweiligen Wirtschaftssysteme. Längst haben die Menschen aufgehört Waren zu horten und Leistungen durch Naturaltausch zu vergüten. Geld ist das Wertaufbewahrungsmittel schlechthin geworden und sein Besitz signalisiert, jedenfalls in den kapitalistischen Gesellschaften, soziale Macht. Daß Goethe den Wein in einen ähnlichen Status hebt ist historisch nur konsequent, denn auch Wein war ja, als das Getränk bei Hofe, lange genug ein Attribut der Macht.

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